Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.der moralischen und körperlichen Schönheit. tertheil seines Gesichts nicht so aufgeblasen wäre? Wenn der dritte nüchtern wäre? der vierteein frohes, offenes, wohlthätiges Herz hätte? der fünfte nicht seine ganze Bocksseele ins Gesicht jagte -- u. s. f. Man vergleiche diese Gesichter mit unzähligen aus den Gemälden und Ku- pferstichen eines Lairesse, Le Brüns -- u. s. f. Man vergleiche Rembrands, Dürers, Golzius, Holbeins, Hohepriester und Pharisäer in der Leidensgeschichte -- mit den aposto- lischen Gesichtern eines Titians, eines Vandyks, mit Westens Pylades und Orest -- Wie bald wär ein Band voll der frappantesten Vergleichungen dieser Art zusammengeschrieben? -- -- Doch, was muß ich Dinge sagen, die Millionen Menschen täglich eingestehen -- und wovon die ganze Welt überall voller Beyspiele ist. -- Aber nun noch eins, lieber Leser! deute nicht auf Veranlassung der oben stehenden Zweyte Zugabe. Judas nach Holbein. Der nächste Kopf ist ein genau durchgezeichneter Umriß von Judas aus einem Nachtmal- Als großen Mahler und trefflichen Zeichner, wer kennt Holbeinen nicht? Aber diese Jtalie-
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. tertheil ſeines Geſichts nicht ſo aufgeblaſen waͤre? Wenn der dritte nuͤchtern waͤre? der vierteein frohes, offenes, wohlthaͤtiges Herz haͤtte? der fuͤnfte nicht ſeine ganze Bocksſeele ins Geſicht jagte — u. ſ. f. Man vergleiche dieſe Geſichter mit unzaͤhligen aus den Gemaͤlden und Ku- pferſtichen eines Laireſſe, Le Bruͤns — u. ſ. f. Man vergleiche Rembrands, Duͤrers, Golzius, Holbeins, Hoheprieſter und Phariſaͤer in der Leidensgeſchichte — mit den apoſto- liſchen Geſichtern eines Titians, eines Vandyks, mit Weſtens Pylades und Oreſt — Wie bald waͤr ein Band voll der frappanteſten Vergleichungen dieſer Art zuſammengeſchrieben? — — Doch, was muß ich Dinge ſagen, die Millionen Menſchen taͤglich eingeſtehen — und wovon die ganze Welt uͤberall voller Beyſpiele iſt. — Aber nun noch eins, lieber Leſer! deute nicht auf Veranlaſſung der oben ſtehenden Zweyte Zugabe. Judas nach Holbein. Der naͤchſte Kopf iſt ein genau durchgezeichneter Umriß von Judas aus einem Nachtmal- Als großen Mahler und trefflichen Zeichner, wer kennt Holbeinen nicht? Aber dieſe Jtalie-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0109" n="79"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.</hi></hi></fw><lb/> tertheil ſeines Geſichts nicht ſo aufgeblaſen waͤre? Wenn der dritte nuͤchtern waͤre? der vierte<lb/> ein frohes, offenes, wohlthaͤtiges Herz haͤtte? der fuͤnfte nicht ſeine ganze Bocksſeele ins Geſicht<lb/> jagte — u. ſ. f. Man vergleiche dieſe Geſichter mit unzaͤhligen aus den Gemaͤlden und Ku-<lb/> pferſtichen eines <hi rendition="#fr">Laireſſe, Le Bruͤns</hi> — u. ſ. f. Man vergleiche <hi rendition="#fr">Rembrands, Duͤrers,<lb/> Golzius, Holbeins,</hi> Hoheprieſter und Phariſaͤer in der Leidensgeſchichte — mit den apoſto-<lb/> liſchen Geſichtern eines <hi rendition="#fr">Titians,</hi> eines <hi rendition="#fr">Vandyks,</hi> mit <hi rendition="#fr">Weſtens Pylades</hi> und <hi rendition="#fr">Oreſt</hi> — Wie<lb/> bald waͤr ein Band voll der frappanteſten Vergleichungen dieſer Art zuſammengeſchrieben? — —<lb/> Doch, was muß ich Dinge ſagen, die Millionen Menſchen taͤglich eingeſtehen — und wovon<lb/> die ganze Welt uͤberall voller Beyſpiele iſt. —</p><lb/> <p>Aber nun noch eins, lieber Leſer! deute nicht auf Veranlaſſung der oben ſtehenden<lb/> Geſichter — auf dieſen oder jenen wirklichen Menſchen. Es ſind keine Portraite: — — lauter<lb/> Jdeale, — die hingeſetzt ſind — dich durch den Anblick der Verunſtaltung, welche Leichtſum und<lb/> Laſter wirken, von Leichtſinn und Laſter abzuſchrecken. —</p> </div><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Zweyte Zugabe.<lb/><hi rendition="#g">Judas nach Holbein.</hi></hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">D</hi>er naͤchſte Kopf iſt ein genau durchgezeichneter Umriß von <hi rendition="#fr">Judas</hi> aus einem Nachtmal-<lb/> ſtuͤck von <hi rendition="#fr">Holbein,</hi> das ſich auf der Bibliothek zu Baſel befindet, die durch einige unſchaͤtz-<lb/> bare Meiſterſtuͤcke dieſes großen Mannes, und durch unzaͤhlige Handriſſe der beruͤhmteſten<lb/> Kuͤnſtler ſich zu einer betraͤchtlichen Gallerie erhebt.</p><lb/> <p>Als großen Mahler und trefflichen Zeichner, wer kennt <hi rendition="#fr">Holbeinen</hi> nicht? Aber dieſe<lb/> Wahrheit des Ausdrucks in erdichteten Perſonen hab' ich ihm nie zugetraut. Jch will ihn<lb/><hi rendition="#fr">Raphaeln</hi> nicht vergleichen — noch weniger an die Seite ſetzen, ſo nah' er ihm auch bis-<lb/> weilen in der Zeichnung und im Colorite gekommen ſeyn mag. Seine Chriſtuskoͤpfe ſind mehr<lb/> wahre Natur, in Abſicht auf Zeichnung und Faͤrbung, und — auf den Ausdruck — gewiſ-<lb/> ſermaßen Modekoͤpfe — und nichts weniger als hohe Jdeale. Wiewohl mir auch noch keiner<lb/> von <hi rendition="#fr">Raphael</hi> zu Geſichte gekommen, an dem nicht verſchiedenes auszuſetzen waͤre. Von<lb/><hi rendition="#fr">Holbeinen</hi> habe indeß nichts geſehen, das den reichhaltigen, den unerſchoͤpflichen Ausdruck des<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Jtalie-</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [79/0109]
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
tertheil ſeines Geſichts nicht ſo aufgeblaſen waͤre? Wenn der dritte nuͤchtern waͤre? der vierte
ein frohes, offenes, wohlthaͤtiges Herz haͤtte? der fuͤnfte nicht ſeine ganze Bocksſeele ins Geſicht
jagte — u. ſ. f. Man vergleiche dieſe Geſichter mit unzaͤhligen aus den Gemaͤlden und Ku-
pferſtichen eines Laireſſe, Le Bruͤns — u. ſ. f. Man vergleiche Rembrands, Duͤrers,
Golzius, Holbeins, Hoheprieſter und Phariſaͤer in der Leidensgeſchichte — mit den apoſto-
liſchen Geſichtern eines Titians, eines Vandyks, mit Weſtens Pylades und Oreſt — Wie
bald waͤr ein Band voll der frappanteſten Vergleichungen dieſer Art zuſammengeſchrieben? — —
Doch, was muß ich Dinge ſagen, die Millionen Menſchen taͤglich eingeſtehen — und wovon
die ganze Welt uͤberall voller Beyſpiele iſt. —
Aber nun noch eins, lieber Leſer! deute nicht auf Veranlaſſung der oben ſtehenden
Geſichter — auf dieſen oder jenen wirklichen Menſchen. Es ſind keine Portraite: — — lauter
Jdeale, — die hingeſetzt ſind — dich durch den Anblick der Verunſtaltung, welche Leichtſum und
Laſter wirken, von Leichtſinn und Laſter abzuſchrecken. —
Zweyte Zugabe.
Judas nach Holbein.
Der naͤchſte Kopf iſt ein genau durchgezeichneter Umriß von Judas aus einem Nachtmal-
ſtuͤck von Holbein, das ſich auf der Bibliothek zu Baſel befindet, die durch einige unſchaͤtz-
bare Meiſterſtuͤcke dieſes großen Mannes, und durch unzaͤhlige Handriſſe der beruͤhmteſten
Kuͤnſtler ſich zu einer betraͤchtlichen Gallerie erhebt.
Als großen Mahler und trefflichen Zeichner, wer kennt Holbeinen nicht? Aber dieſe
Wahrheit des Ausdrucks in erdichteten Perſonen hab' ich ihm nie zugetraut. Jch will ihn
Raphaeln nicht vergleichen — noch weniger an die Seite ſetzen, ſo nah' er ihm auch bis-
weilen in der Zeichnung und im Colorite gekommen ſeyn mag. Seine Chriſtuskoͤpfe ſind mehr
wahre Natur, in Abſicht auf Zeichnung und Faͤrbung, und — auf den Ausdruck — gewiſ-
ſermaßen Modekoͤpfe — und nichts weniger als hohe Jdeale. Wiewohl mir auch noch keiner
von Raphael zu Geſichte gekommen, an dem nicht verſchiedenes auszuſetzen waͤre. Von
Holbeinen habe indeß nichts geſehen, das den reichhaltigen, den unerſchoͤpflichen Ausdruck des
Jtalie-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |