Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
IX. Fragment. 1. Zugabe. Von der Harmonie
[Abbildung]
Erste Zugabe.

Man verweile einige Augenblicke bey der Vignette, die dieser Zugabe vorgesetzt ist, sie wird
Mitzeugniß der Wahrheit der Physiognomie und zugleich Bestätigung der bisher behaupteten
Harmonie seyn.

Fürs erste: Wer siehet nicht, wer kennt nicht die Verschiedenheit dieser fünf Gesich-
ter? Welches Kind wird nicht wenigstens alsdenn die Wahrheit der Physiognomie empfinden,
wenn man ihm den Character derselben nennt? Man mache den Versuch mit einem Kinde,
das nur fähig ist, die Bedeutung der Worte zu fassen; man geb ihm folgende fünf Namen
in die Hand, und heiß es zu jedem Gesichte denjenigen legen, der ihm zukommt. -- Man
sage ihm; "Unter diesen fünfen ist ein leichtsinniger süßer Geck! Ein stolzer Windbeutel!
Ein Trunkener! Ein Geizhals! Ein geiler Bock! -- Es wird schwerlich irren, und diese
Namen unrecht vertheilen. --

Aber zweytens: -- Macht nicht gerade das Unehrwürdige, Häßliche dieser Character --
diese Gesichter häßlich? Jst es nicht jedes in dem Grade, in welchem seine Lasterhaftigkeit vor-
ausgesetzt wird? -- Wie viel angenehmer würde jedes dieser Gesichter aussehen, wenn die
Seele frey von Leidenschaft wäre! -- Wenn der erste seinen Mund schlösse, und seinem
Blicke mehr Aufmerksamkeit gäbe? Der zweyte den Kopf nicht so hoch trüge, und der Un-

tertheil
IX. Fragment. 1. Zugabe. Von der Harmonie
[Abbildung]
Erſte Zugabe.

Man verweile einige Augenblicke bey der Vignette, die dieſer Zugabe vorgeſetzt iſt, ſie wird
Mitzeugniß der Wahrheit der Phyſiognomie und zugleich Beſtaͤtigung der bisher behaupteten
Harmonie ſeyn.

Fuͤrs erſte: Wer ſiehet nicht, wer kennt nicht die Verſchiedenheit dieſer fuͤnf Geſich-
ter? Welches Kind wird nicht wenigſtens alsdenn die Wahrheit der Phyſiognomie empfinden,
wenn man ihm den Character derſelben nennt? Man mache den Verſuch mit einem Kinde,
das nur faͤhig iſt, die Bedeutung der Worte zu faſſen; man geb ihm folgende fuͤnf Namen
in die Hand, und heiß es zu jedem Geſichte denjenigen legen, der ihm zukommt. — Man
ſage ihm; „Unter dieſen fuͤnfen iſt ein leichtſinniger ſuͤßer Geck! Ein ſtolzer Windbeutel!
Ein Trunkener! Ein Geizhals! Ein geiler Bock! — Es wird ſchwerlich irren, und dieſe
Namen unrecht vertheilen. —

Aber zweytens: — Macht nicht gerade das Unehrwuͤrdige, Haͤßliche dieſer Character —
dieſe Geſichter haͤßlich? Jſt es nicht jedes in dem Grade, in welchem ſeine Laſterhaftigkeit vor-
ausgeſetzt wird? — Wie viel angenehmer wuͤrde jedes dieſer Geſichter ausſehen, wenn die
Seele frey von Leidenſchaft waͤre! — Wenn der erſte ſeinen Mund ſchloͤſſe, und ſeinem
Blicke mehr Aufmerkſamkeit gaͤbe? Der zweyte den Kopf nicht ſo hoch truͤge, und der Un-

tertheil
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0106" n="78"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">IX.</hi> <hi rendition="#g">Fragment. 1. Zugabe. Von der Harmonie</hi> </hi> </fw><lb/>
          <figure/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Er&#x017F;te Zugabe.</hi> </hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">M</hi>an verweile einige Augenblicke bey der Vignette, die die&#x017F;er Zugabe vorge&#x017F;etzt i&#x017F;t, &#x017F;ie wird<lb/>
Mitzeugniß der Wahrheit der Phy&#x017F;iognomie und zugleich Be&#x017F;ta&#x0364;tigung der bisher behaupteten<lb/>
Harmonie &#x017F;eyn.</p><lb/>
            <p>Fu&#x0364;rs er&#x017F;te: Wer &#x017F;iehet nicht, wer kennt nicht die Ver&#x017F;chiedenheit die&#x017F;er fu&#x0364;nf Ge&#x017F;ich-<lb/>
ter? Welches Kind wird nicht wenig&#x017F;tens alsdenn die Wahrheit der Phy&#x017F;iognomie empfinden,<lb/>
wenn man ihm den Character der&#x017F;elben nennt? Man mache den Ver&#x017F;uch mit einem Kinde,<lb/>
das nur fa&#x0364;hig i&#x017F;t, die Bedeutung der Worte zu fa&#x017F;&#x017F;en; man geb ihm folgende fu&#x0364;nf Namen<lb/>
in die Hand, und heiß es zu jedem Ge&#x017F;ichte denjenigen legen, der ihm zukommt. &#x2014; Man<lb/>
&#x017F;age ihm; &#x201E;Unter die&#x017F;en fu&#x0364;nfen i&#x017F;t ein leicht&#x017F;inniger <hi rendition="#fr">&#x017F;u&#x0364;ßer Geck!</hi> Ein <hi rendition="#fr">&#x017F;tolzer Windbeutel!</hi><lb/>
Ein <hi rendition="#fr">Trunkener!</hi> Ein <hi rendition="#fr">Geizhals!</hi> Ein <hi rendition="#fr">geiler Bock!</hi> &#x2014; Es wird &#x017F;chwerlich irren, und die&#x017F;e<lb/>
Namen unrecht vertheilen. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Aber zweytens: &#x2014; Macht nicht gerade das Unehrwu&#x0364;rdige, Ha&#x0364;ßliche die&#x017F;er Character &#x2014;<lb/>
die&#x017F;e Ge&#x017F;ichter ha&#x0364;ßlich? J&#x017F;t es nicht jedes in dem Grade, in welchem &#x017F;eine La&#x017F;terhaftigkeit vor-<lb/>
ausge&#x017F;etzt wird? &#x2014; Wie viel angenehmer wu&#x0364;rde jedes die&#x017F;er Ge&#x017F;ichter aus&#x017F;ehen, wenn die<lb/>
Seele frey von Leiden&#x017F;chaft wa&#x0364;re! &#x2014; Wenn der er&#x017F;te &#x017F;einen Mund &#x017F;chlo&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, und &#x017F;einem<lb/>
Blicke mehr Aufmerk&#x017F;amkeit ga&#x0364;be? Der zweyte den Kopf nicht &#x017F;o hoch tru&#x0364;ge, und der Un-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">tertheil</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0106] IX. Fragment. 1. Zugabe. Von der Harmonie [Abbildung] Erſte Zugabe. Man verweile einige Augenblicke bey der Vignette, die dieſer Zugabe vorgeſetzt iſt, ſie wird Mitzeugniß der Wahrheit der Phyſiognomie und zugleich Beſtaͤtigung der bisher behaupteten Harmonie ſeyn. Fuͤrs erſte: Wer ſiehet nicht, wer kennt nicht die Verſchiedenheit dieſer fuͤnf Geſich- ter? Welches Kind wird nicht wenigſtens alsdenn die Wahrheit der Phyſiognomie empfinden, wenn man ihm den Character derſelben nennt? Man mache den Verſuch mit einem Kinde, das nur faͤhig iſt, die Bedeutung der Worte zu faſſen; man geb ihm folgende fuͤnf Namen in die Hand, und heiß es zu jedem Geſichte denjenigen legen, der ihm zukommt. — Man ſage ihm; „Unter dieſen fuͤnfen iſt ein leichtſinniger ſuͤßer Geck! Ein ſtolzer Windbeutel! Ein Trunkener! Ein Geizhals! Ein geiler Bock! — Es wird ſchwerlich irren, und dieſe Namen unrecht vertheilen. — Aber zweytens: — Macht nicht gerade das Unehrwuͤrdige, Haͤßliche dieſer Character — dieſe Geſichter haͤßlich? Jſt es nicht jedes in dem Grade, in welchem ſeine Laſterhaftigkeit vor- ausgeſetzt wird? — Wie viel angenehmer wuͤrde jedes dieſer Geſichter ausſehen, wenn die Seele frey von Leidenſchaft waͤre! — Wenn der erſte ſeinen Mund ſchloͤſſe, und ſeinem Blicke mehr Aufmerkſamkeit gaͤbe? Der zweyte den Kopf nicht ſo hoch truͤge, und der Un- tertheil

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/106
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/106>, abgerufen am 21.12.2024.