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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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IX. Hauptstück.


Neuntes Hauptstück.
Von
der Art einer Sprache.

§. 315.

Nach der allgemeinen Betrachtung der Sprachthei-
le, ihrer Etymologie und Syntaxe, wird in den
Sprachlehren die Prosodie oder Tonmessung vorge-
nommen, und darinn mehrentheils a posteriori erör-
tert, welche Sylben länger oder kürzer ausgesprochen
werden, und welche Abwechslungen in den Versarten
aus jeder wohl in das Ohr fallenden Verbindung lan-
ger und kurzer Sylben entstehen. Wir halten uns
aber hiebey nicht auf, da wir verschiedenes hieher und
selbst auch zur Dichtkunst gehöriges bereits oben (§. 44.
99. 100. 101. 297. 303.) gelegentlich angemerkt haben,
woraus sich der Ton der Sylben und Wörter über-
haupt, und auch in Absicht auf die Gedanken selbst, be-
urtheilen läßt, und woraus man zugleich sehen kann,
daß der bloße Unterschied der Sylben in lange und kur-
ze viel zu einfach ist, als daß dadurch alle Modificatio-
nen der Aussprache sollten können angezeigt werden.
Die Griechen und Lateiner hatten das besonders, daß
die Aufhäufung der Mitlauter eine sonst an sich kurze
Sylbe lang machen konnte, wovon ein feineres Gehör,
vermuthlicher aber eine angewöhnte Ungelenkigkeit der
Gliedmaßen der Sprache, der Grund gewesen zu seyn
scheint (§. 79. 84.). Denn da die Länge und besonders
die Schärfe des Tons der Sylben und Wörter, mit
dem mehr oder minder Nachdrücklichen und Aufmer-
kenswürdigen in den Gedanken, in Verhältniß stehen

solle,
IX. Hauptſtuͤck.


Neuntes Hauptſtuͤck.
Von
der Art einer Sprache.

§. 315.

Nach der allgemeinen Betrachtung der Sprachthei-
le, ihrer Etymologie und Syntaxe, wird in den
Sprachlehren die Proſodie oder Tonmeſſung vorge-
nommen, und darinn mehrentheils a poſteriori eroͤr-
tert, welche Sylben laͤnger oder kuͤrzer ausgeſprochen
werden, und welche Abwechslungen in den Versarten
aus jeder wohl in das Ohr fallenden Verbindung lan-
ger und kurzer Sylben entſtehen. Wir halten uns
aber hiebey nicht auf, da wir verſchiedenes hieher und
ſelbſt auch zur Dichtkunſt gehoͤriges bereits oben (§. 44.
99. 100. 101. 297. 303.) gelegentlich angemerkt haben,
woraus ſich der Ton der Sylben und Woͤrter uͤber-
haupt, und auch in Abſicht auf die Gedanken ſelbſt, be-
urtheilen laͤßt, und woraus man zugleich ſehen kann,
daß der bloße Unterſchied der Sylben in lange und kur-
ze viel zu einfach iſt, als daß dadurch alle Modificatio-
nen der Ausſprache ſollten koͤnnen angezeigt werden.
Die Griechen und Lateiner hatten das beſonders, daß
die Aufhaͤufung der Mitlauter eine ſonſt an ſich kurze
Sylbe lang machen konnte, wovon ein feineres Gehoͤr,
vermuthlicher aber eine angewoͤhnte Ungelenkigkeit der
Gliedmaßen der Sprache, der Grund geweſen zu ſeyn
ſcheint (§. 79. 84.). Denn da die Laͤnge und beſonders
die Schaͤrfe des Tons der Sylben und Woͤrter, mit
dem mehr oder minder Nachdruͤcklichen und Aufmer-
kenswuͤrdigen in den Gedanken, in Verhaͤltniß ſtehen

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[190/0196] IX. Hauptſtuͤck. Neuntes Hauptſtuͤck. Von der Art einer Sprache. §. 315. Nach der allgemeinen Betrachtung der Sprachthei- le, ihrer Etymologie und Syntaxe, wird in den Sprachlehren die Proſodie oder Tonmeſſung vorge- nommen, und darinn mehrentheils a poſteriori eroͤr- tert, welche Sylben laͤnger oder kuͤrzer ausgeſprochen werden, und welche Abwechslungen in den Versarten aus jeder wohl in das Ohr fallenden Verbindung lan- ger und kurzer Sylben entſtehen. Wir halten uns aber hiebey nicht auf, da wir verſchiedenes hieher und ſelbſt auch zur Dichtkunſt gehoͤriges bereits oben (§. 44. 99. 100. 101. 297. 303.) gelegentlich angemerkt haben, woraus ſich der Ton der Sylben und Woͤrter uͤber- haupt, und auch in Abſicht auf die Gedanken ſelbſt, be- urtheilen laͤßt, und woraus man zugleich ſehen kann, daß der bloße Unterſchied der Sylben in lange und kur- ze viel zu einfach iſt, als daß dadurch alle Modificatio- nen der Ausſprache ſollten koͤnnen angezeigt werden. Die Griechen und Lateiner hatten das beſonders, daß die Aufhaͤufung der Mitlauter eine ſonſt an ſich kurze Sylbe lang machen konnte, wovon ein feineres Gehoͤr, vermuthlicher aber eine angewoͤhnte Ungelenkigkeit der Gliedmaßen der Sprache, der Grund geweſen zu ſeyn ſcheint (§. 79. 84.). Denn da die Laͤnge und beſonders die Schaͤrfe des Tons der Sylben und Woͤrter, mit dem mehr oder minder Nachdruͤcklichen und Aufmer- kenswuͤrdigen in den Gedanken, in Verhaͤltniß ſtehen ſolle,

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/196>, abgerufen am 21.11.2024.