Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Hauptstück, von dem Unterschiede
sollte bewiesen werden, zum Grunde legt, um den
Grund daraus zu finden. Wir sind in unzähligen
Fällen genöthigt, diesen Weg zu nehmen, so oft wir
nämlich Begriffe und Sätze aus der Erfahrung ent-
lehnen müssen. Und dieses erfordert eine besondre
analytische Methode, die wir in der Dianoiologie (§.
404. seqq.) angegeben haben. Hingegen in dem Rei-
che der Wahrheit, an sich betrachtet, müssen Gründe
a priori gedacht werden, weil diese den eigentlichen
und natürlichen oder directen Zusammenhang der
Wahrheiten angeben, und die Gründe a posteriori
sind darinn nur reciprocirlich, in sofern man nämlich
von dem Gegründeten zu den Gründen rückwärts ge-
hen kann, das Gegründete aber als bereits aus den
Gründen erwiesen annimmt.

§. 236. b)

Wir haben nun die Frage: ob etwas ohne
zureichenden Grund sey,
so weit entwickelt, daß
man nur die Frage zu erörtern hat: ob etwas Mög-
liches für sich gedenkbar sey?
Wer dieses läugnet,
dem dient der Lehrsatz des (§. 227.) und er wird nicht
nur behaupten müssen, alles Mögliche habe einen
Grund, sondern auch, daß dieser Grund außer dem
Möglichen sey, nämlich, sofern es nicht für sich erkenn-
bar ist. Man muß sich aber erinnern, daß hier von
Gründen a priori die Rede ist. Auf diese Art aber
verfällt man auf eine Reihe von Gründen, die in
gerader Linie (§. 223.) ins Unendliche fortgeht. A
wird sich auf B, B auf C, C auf D etc. gründen, und
keines von diesen Möglichen für sich erkennbar seyn.
Ob aber, wenn dieses nothwendig unendlich fortge-
hen soll, auch nur ein Glied dieser Reihe erkennbar
werde, ist eine ganz andre Frage, weil das, woraus
die ganze Reihe erkennbar werden soll, nirgends
darinn vorkömmt. Denn käme es vor, so müßte es

für

IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
ſollte bewieſen werden, zum Grunde legt, um den
Grund daraus zu finden. Wir ſind in unzaͤhligen
Faͤllen genoͤthigt, dieſen Weg zu nehmen, ſo oft wir
naͤmlich Begriffe und Saͤtze aus der Erfahrung ent-
lehnen muͤſſen. Und dieſes erfordert eine beſondre
analytiſche Methode, die wir in der Dianoiologie (§.
404. ſeqq.) angegeben haben. Hingegen in dem Rei-
che der Wahrheit, an ſich betrachtet, muͤſſen Gruͤnde
a priori gedacht werden, weil dieſe den eigentlichen
und natuͤrlichen oder directen Zuſammenhang der
Wahrheiten angeben, und die Gruͤnde a poſteriori
ſind darinn nur reciprocirlich, in ſofern man naͤmlich
von dem Gegruͤndeten zu den Gruͤnden ruͤckwaͤrts ge-
hen kann, das Gegruͤndete aber als bereits aus den
Gruͤnden erwieſen annimmt.

§. 236. b)

Wir haben nun die Frage: ob etwas ohne
zureichenden Grund ſey,
ſo weit entwickelt, daß
man nur die Frage zu eroͤrtern hat: ob etwas Moͤg-
liches fuͤr ſich gedenkbar ſey?
Wer dieſes laͤugnet,
dem dient der Lehrſatz des (§. 227.) und er wird nicht
nur behaupten muͤſſen, alles Moͤgliche habe einen
Grund, ſondern auch, daß dieſer Grund außer dem
Moͤglichen ſey, naͤmlich, ſofern es nicht fuͤr ſich erkenn-
bar iſt. Man muß ſich aber erinnern, daß hier von
Gruͤnden a priori die Rede iſt. Auf dieſe Art aber
verfaͤllt man auf eine Reihe von Gruͤnden, die in
gerader Linie (§. 223.) ins Unendliche fortgeht. A
wird ſich auf B, B auf C, C auf D etc. gruͤnden, und
keines von dieſen Moͤglichen fuͤr ſich erkennbar ſeyn.
Ob aber, wenn dieſes nothwendig unendlich fortge-
hen ſoll, auch nur ein Glied dieſer Reihe erkennbar
werde, iſt eine ganz andre Frage, weil das, woraus
die ganze Reihe erkennbar werden ſoll, nirgends
darinn vorkoͤmmt. Denn kaͤme es vor, ſo muͤßte es

fuͤr
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0596" n="574"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck, von dem Unter&#x017F;chiede</hi></fw><lb/>
&#x017F;ollte bewie&#x017F;en werden, zum Grunde legt, um den<lb/>
Grund daraus zu finden. Wir &#x017F;ind in unza&#x0364;hligen<lb/>
Fa&#x0364;llen geno&#x0364;thigt, die&#x017F;en Weg zu nehmen, &#x017F;o oft wir<lb/>
na&#x0364;mlich Begriffe und Sa&#x0364;tze aus der Erfahrung ent-<lb/>
lehnen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Und die&#x017F;es erfordert eine be&#x017F;ondre<lb/>
analyti&#x017F;che Methode, die wir in der Dianoiologie (§.<lb/>
404. <hi rendition="#aq">&#x017F;eqq.</hi>) angegeben haben. Hingegen in dem Rei-<lb/>
che der Wahrheit, an &#x017F;ich betrachtet, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en Gru&#x0364;nde<lb/><hi rendition="#aq">a priori</hi> gedacht werden, weil die&#x017F;e den eigentlichen<lb/>
und natu&#x0364;rlichen oder directen Zu&#x017F;ammenhang der<lb/>
Wahrheiten angeben, und die Gru&#x0364;nde <hi rendition="#aq">a po&#x017F;teriori</hi><lb/>
&#x017F;ind darinn nur reciprocirlich, in &#x017F;ofern man na&#x0364;mlich<lb/>
von dem Gegru&#x0364;ndeten zu den Gru&#x0364;nden ru&#x0364;ckwa&#x0364;rts ge-<lb/>
hen kann, das Gegru&#x0364;ndete aber als bereits aus den<lb/>
Gru&#x0364;nden erwie&#x017F;en annimmt.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 236. <hi rendition="#aq">b</hi>)</head><lb/>
            <p>Wir haben nun die Frage: <hi rendition="#fr">ob etwas ohne<lb/>
zureichenden Grund &#x017F;ey,</hi> &#x017F;o weit entwickelt, daß<lb/>
man nur die Frage zu ero&#x0364;rtern hat: <hi rendition="#fr">ob etwas Mo&#x0364;g-<lb/>
liches fu&#x0364;r &#x017F;ich gedenkbar &#x017F;ey?</hi> Wer die&#x017F;es la&#x0364;ugnet,<lb/>
dem dient der Lehr&#x017F;atz des (§. 227.) und er wird nicht<lb/>
nur behaupten mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, alles Mo&#x0364;gliche habe einen<lb/>
Grund, &#x017F;ondern auch, daß die&#x017F;er Grund <hi rendition="#fr">außer</hi> dem<lb/>
Mo&#x0364;glichen &#x017F;ey, na&#x0364;mlich, &#x017F;ofern es nicht fu&#x0364;r &#x017F;ich erkenn-<lb/>
bar i&#x017F;t. Man muß &#x017F;ich aber erinnern, daß hier von<lb/>
Gru&#x0364;nden <hi rendition="#aq">a priori</hi> die Rede i&#x017F;t. Auf die&#x017F;e Art aber<lb/>
verfa&#x0364;llt man auf eine Reihe von Gru&#x0364;nden, die in<lb/>
gerader Linie (§. 223.) ins Unendliche fortgeht. <hi rendition="#aq">A</hi><lb/>
wird &#x017F;ich auf <hi rendition="#aq">B, B</hi> auf <hi rendition="#aq">C, C</hi> auf <hi rendition="#aq">D etc.</hi> gru&#x0364;nden, und<lb/>
keines von die&#x017F;en Mo&#x0364;glichen fu&#x0364;r &#x017F;ich erkennbar &#x017F;eyn.<lb/>
Ob aber, wenn die&#x017F;es nothwendig unendlich fortge-<lb/>
hen &#x017F;oll, auch nur ein Glied die&#x017F;er Reihe erkennbar<lb/>
werde, i&#x017F;t eine ganz andre Frage, weil das, woraus<lb/>
die ganze Reihe erkennbar werden &#x017F;oll, nirgends<lb/>
darinn vorko&#x0364;mmt. Denn ka&#x0364;me es vor, &#x017F;o mu&#x0364;ßte es<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">fu&#x0364;r</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[574/0596] IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede ſollte bewieſen werden, zum Grunde legt, um den Grund daraus zu finden. Wir ſind in unzaͤhligen Faͤllen genoͤthigt, dieſen Weg zu nehmen, ſo oft wir naͤmlich Begriffe und Saͤtze aus der Erfahrung ent- lehnen muͤſſen. Und dieſes erfordert eine beſondre analytiſche Methode, die wir in der Dianoiologie (§. 404. ſeqq.) angegeben haben. Hingegen in dem Rei- che der Wahrheit, an ſich betrachtet, muͤſſen Gruͤnde a priori gedacht werden, weil dieſe den eigentlichen und natuͤrlichen oder directen Zuſammenhang der Wahrheiten angeben, und die Gruͤnde a poſteriori ſind darinn nur reciprocirlich, in ſofern man naͤmlich von dem Gegruͤndeten zu den Gruͤnden ruͤckwaͤrts ge- hen kann, das Gegruͤndete aber als bereits aus den Gruͤnden erwieſen annimmt. §. 236. b) Wir haben nun die Frage: ob etwas ohne zureichenden Grund ſey, ſo weit entwickelt, daß man nur die Frage zu eroͤrtern hat: ob etwas Moͤg- liches fuͤr ſich gedenkbar ſey? Wer dieſes laͤugnet, dem dient der Lehrſatz des (§. 227.) und er wird nicht nur behaupten muͤſſen, alles Moͤgliche habe einen Grund, ſondern auch, daß dieſer Grund außer dem Moͤglichen ſey, naͤmlich, ſofern es nicht fuͤr ſich erkenn- bar iſt. Man muß ſich aber erinnern, daß hier von Gruͤnden a priori die Rede iſt. Auf dieſe Art aber verfaͤllt man auf eine Reihe von Gruͤnden, die in gerader Linie (§. 223.) ins Unendliche fortgeht. A wird ſich auf B, B auf C, C auf D etc. gruͤnden, und keines von dieſen Moͤglichen fuͤr ſich erkennbar ſeyn. Ob aber, wenn dieſes nothwendig unendlich fortge- hen ſoll, auch nur ein Glied dieſer Reihe erkennbar werde, iſt eine ganz andre Frage, weil das, woraus die ganze Reihe erkennbar werden ſoll, nirgends darinn vorkoͤmmt. Denn kaͤme es vor, ſo muͤßte es fuͤr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/596
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/596>, abgerufen am 21.12.2024.