Mangelt sie aber vollkommen, so fehlt uns nicht nur der einfache Begriff an sich betrachtet: sondern es bleibt auch in allen denen zusammengesetzten, in wel- chen er mit vorkömmt, nothwendig eine Lücke. Auf diese Art haben Blinde gar keinen Begriff von den Farben, Taube keinen Begriff von dem Schall etc. Und wenn man annimmt, daß es innere Empfin- dungen giebt, wie z. E. Dichter gewisse feinere Em- pfindungen von der Schönheit, dem rührenden in den Gedanken, von gewissen Grazien etc. haben, so ist es auch möglich, daß solche Empfindungen und was daher rührt, bey einigen ganz mangeln. Man ist geneigt zu glauben, daß viele von diesen Feinheiten und Grazien sich eben so wenig als die Farben durch innere Merkmaale erklären lassen, und daß man schlechthin durch die Empfindung einen Begriff da- von haben könne.
§. 15.
Ohne uns aber dabey aufzuhalten, ob es solche innere Sinnen gebe, so merken wir in Ansehung der äußern an, daß die klaren Begriffe, die wir dadurch erlangen, von der Art sind, daß sie, wenigstens so lange wir wachen, nicht anders als durch die Erneue- rung der Empfindung selbst wieder erregt werden, und in dieser Absicht ist uns im Traume möglich, was wir wachend nicht thun können. So wissen wir z. E. daß eine Rose roth ist, daß diese rothe Farbe ge- wisse Nuances und Stufen hat, daß sie von der ro- then Farbe andrer Blumen und Dinge mehr oder minder verschieden ist, wir können auch noch ziemlich beurtheilen, ob sie in Gemälden getroffen ist, oder nicht etc. aber das Bild oder den eigentlich klaren Be- griff der Farbe erreichen wir wachend mit aller An- strengung der Einbildungskraft nicht, ungeachtet es
im
I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
Mangelt ſie aber vollkommen, ſo fehlt uns nicht nur der einfache Begriff an ſich betrachtet: ſondern es bleibt auch in allen denen zuſammengeſetzten, in wel- chen er mit vorkoͤmmt, nothwendig eine Luͤcke. Auf dieſe Art haben Blinde gar keinen Begriff von den Farben, Taube keinen Begriff von dem Schall ꝛc. Und wenn man annimmt, daß es innere Empfin- dungen giebt, wie z. E. Dichter gewiſſe feinere Em- pfindungen von der Schoͤnheit, dem ruͤhrenden in den Gedanken, von gewiſſen Grazien ꝛc. haben, ſo iſt es auch moͤglich, daß ſolche Empfindungen und was daher ruͤhrt, bey einigen ganz mangeln. Man iſt geneigt zu glauben, daß viele von dieſen Feinheiten und Grazien ſich eben ſo wenig als die Farben durch innere Merkmaale erklaͤren laſſen, und daß man ſchlechthin durch die Empfindung einen Begriff da- von haben koͤnne.
§. 15.
Ohne uns aber dabey aufzuhalten, ob es ſolche innere Sinnen gebe, ſo merken wir in Anſehung der aͤußern an, daß die klaren Begriffe, die wir dadurch erlangen, von der Art ſind, daß ſie, wenigſtens ſo lange wir wachen, nicht anders als durch die Erneue- rung der Empfindung ſelbſt wieder erregt werden, und in dieſer Abſicht iſt uns im Traume moͤglich, was wir wachend nicht thun koͤnnen. So wiſſen wir z. E. daß eine Roſe roth iſt, daß dieſe rothe Farbe ge- wiſſe Nuances und Stufen hat, daß ſie von der ro- then Farbe andrer Blumen und Dinge mehr oder minder verſchieden iſt, wir koͤnnen auch noch ziemlich beurtheilen, ob ſie in Gemaͤlden getroffen iſt, oder nicht ꝛc. aber das Bild oder den eigentlich klaren Be- griff der Farbe erreichen wir wachend mit aller An- ſtrengung der Einbildungskraft nicht, ungeachtet es
im
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0482"n="460"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">I.</hi> Hauptſtuͤck, von den einfachen</hi></fw><lb/>
Mangelt ſie aber vollkommen, ſo fehlt uns nicht nur<lb/>
der einfache Begriff an ſich betrachtet: ſondern es<lb/>
bleibt auch in allen denen zuſammengeſetzten, in wel-<lb/>
chen er mit vorkoͤmmt, nothwendig eine Luͤcke. Auf<lb/>
dieſe Art haben Blinde gar keinen Begriff von den<lb/>
Farben, Taube keinen Begriff von dem Schall ꝛc.<lb/>
Und wenn man annimmt, daß es innere Empfin-<lb/>
dungen giebt, wie z. E. Dichter gewiſſe feinere Em-<lb/>
pfindungen von der Schoͤnheit, dem ruͤhrenden in den<lb/>
Gedanken, von gewiſſen Grazien ꝛc. haben, ſo iſt<lb/>
es auch moͤglich, daß ſolche Empfindungen und was<lb/>
daher ruͤhrt, bey einigen ganz mangeln. Man iſt<lb/>
geneigt zu glauben, daß viele von dieſen Feinheiten<lb/>
und Grazien ſich eben ſo wenig als die Farben durch<lb/>
innere Merkmaale erklaͤren laſſen, und daß man<lb/>ſchlechthin durch die Empfindung einen Begriff da-<lb/>
von haben koͤnne.</p></div><lb/><divn="3"><head>§. 15.</head><lb/><p>Ohne uns aber dabey aufzuhalten, ob es ſolche<lb/>
innere Sinnen gebe, ſo merken wir in Anſehung der<lb/>
aͤußern an, daß die klaren Begriffe, die wir dadurch<lb/>
erlangen, von der Art ſind, daß ſie, wenigſtens ſo<lb/>
lange wir wachen, nicht anders als durch die Erneue-<lb/>
rung der Empfindung ſelbſt wieder erregt werden,<lb/>
und in dieſer Abſicht iſt uns im Traume moͤglich, was<lb/>
wir wachend nicht thun koͤnnen. So wiſſen wir z.<lb/>
E. daß eine Roſe roth iſt, daß dieſe rothe Farbe ge-<lb/>
wiſſe <hirendition="#aq">Nuances</hi> und Stufen hat, daß ſie von der ro-<lb/>
then Farbe andrer Blumen und Dinge mehr oder<lb/>
minder verſchieden iſt, wir koͤnnen auch noch ziemlich<lb/>
beurtheilen, ob ſie in Gemaͤlden getroffen iſt, oder<lb/>
nicht ꝛc. aber das Bild oder den eigentlich klaren Be-<lb/>
griff der Farbe erreichen wir wachend mit aller An-<lb/>ſtrengung der Einbildungskraft nicht, ungeachtet es<lb/><fwplace="bottom"type="catch">im</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[460/0482]
I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
Mangelt ſie aber vollkommen, ſo fehlt uns nicht nur
der einfache Begriff an ſich betrachtet: ſondern es
bleibt auch in allen denen zuſammengeſetzten, in wel-
chen er mit vorkoͤmmt, nothwendig eine Luͤcke. Auf
dieſe Art haben Blinde gar keinen Begriff von den
Farben, Taube keinen Begriff von dem Schall ꝛc.
Und wenn man annimmt, daß es innere Empfin-
dungen giebt, wie z. E. Dichter gewiſſe feinere Em-
pfindungen von der Schoͤnheit, dem ruͤhrenden in den
Gedanken, von gewiſſen Grazien ꝛc. haben, ſo iſt
es auch moͤglich, daß ſolche Empfindungen und was
daher ruͤhrt, bey einigen ganz mangeln. Man iſt
geneigt zu glauben, daß viele von dieſen Feinheiten
und Grazien ſich eben ſo wenig als die Farben durch
innere Merkmaale erklaͤren laſſen, und daß man
ſchlechthin durch die Empfindung einen Begriff da-
von haben koͤnne.
§. 15.
Ohne uns aber dabey aufzuhalten, ob es ſolche
innere Sinnen gebe, ſo merken wir in Anſehung der
aͤußern an, daß die klaren Begriffe, die wir dadurch
erlangen, von der Art ſind, daß ſie, wenigſtens ſo
lange wir wachen, nicht anders als durch die Erneue-
rung der Empfindung ſelbſt wieder erregt werden,
und in dieſer Abſicht iſt uns im Traume moͤglich, was
wir wachend nicht thun koͤnnen. So wiſſen wir z.
E. daß eine Roſe roth iſt, daß dieſe rothe Farbe ge-
wiſſe Nuances und Stufen hat, daß ſie von der ro-
then Farbe andrer Blumen und Dinge mehr oder
minder verſchieden iſt, wir koͤnnen auch noch ziemlich
beurtheilen, ob ſie in Gemaͤlden getroffen iſt, oder
nicht ꝛc. aber das Bild oder den eigentlich klaren Be-
griff der Farbe erreichen wir wachend mit aller An-
ſtrengung der Einbildungskraft nicht, ungeachtet es
im
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/482>, abgerufen am 23.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.