hingegen sich bey widersinnischen Dingen nicht aus- helfen, und Einwürfe nicht anders als durch ein blos- ses und öfters trotziges Behaupten von sich stoßen kann. So pochen Empirici, das ist, Leute, die alle ihre Erkenntniß den Sinnen zu danken und höchstens andern etwas abgelernt haben, auf die Erfahrung und auf die Satzungen ihrer Lehrmeister.
§. 606.
Hingegen in der wissenschaftlichen Erkenntniß macht man aus diesem Stückwerk ein Ganzes, die Wahrheiten werden in derselben von einander abhän- gig, man reicht dadurch über den Gesichtskrais der Sinnen hinaus, und erhält, was Cicero von der Meßkunst sagt: In geometria si dederis, omnia danda sunt, und man kann beyfügen, et vltra quam quod credideris. Es ist dieses kein übertriebener Lobspruch der wissenschaftlichen Erkenntniß. Denn z. E. daß uns die Meßkunst finden lehre, was durch keine Erfahrung oder wirkliche Ausmessung gefunden werden kann, daß sie uns unzählige Ausmessungen und unter diesen die unmöglichen und die mühsamsten erspare, und uns mehr entdecke, als wir finden zu können glauben konnten, erhellet aus unzähligen Bey- spielen. Der einige Satz, daß man aus zween Win- keln eines geradlinichten Triangels den dritten finde, und daß, wenn noch eine Seite dazu gegeben, die bey- den andern Seiten so gut bekannt seyn, als wenn sie wären ausgemessen worden, erspart uns von sechs Ausmessungen die Hälfte. Nach der gemeinen Er- kenntniß aber würden alle sechs gleich nothwendig und jede für sich vorgenommen werden müssen. Hiebey ist klar, daß, wenn die wirkliche Ausmessung aller sechs Stücke an sich auch thunlich ist, die Geometrie uns dennoch die Hälfte der Mühe erspare, wo aber
die
IX. Hauptſtuͤck,
hingegen ſich bey widerſinniſchen Dingen nicht aus- helfen, und Einwuͤrfe nicht anders als durch ein bloſ- ſes und oͤfters trotziges Behaupten von ſich ſtoßen kann. So pochen Empirici, das iſt, Leute, die alle ihre Erkenntniß den Sinnen zu danken und hoͤchſtens andern etwas abgelernt haben, auf die Erfahrung und auf die Satzungen ihrer Lehrmeiſter.
§. 606.
Hingegen in der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß macht man aus dieſem Stuͤckwerk ein Ganzes, die Wahrheiten werden in derſelben von einander abhaͤn- gig, man reicht dadurch uͤber den Geſichtskrais der Sinnen hinaus, und erhaͤlt, was Cicero von der Meßkunſt ſagt: In geometria ſi dederis, omnia danda ſunt, und man kann beyfuͤgen, et vltra quam quod credideris. Es iſt dieſes kein uͤbertriebener Lobſpruch der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß. Denn z. E. daß uns die Meßkunſt finden lehre, was durch keine Erfahrung oder wirkliche Ausmeſſung gefunden werden kann, daß ſie uns unzaͤhlige Ausmeſſungen und unter dieſen die unmoͤglichen und die muͤhſamſten erſpare, und uns mehr entdecke, als wir finden zu koͤnnen glauben konnten, erhellet aus unzaͤhligen Bey- ſpielen. Der einige Satz, daß man aus zween Win- keln eines geradlinichten Triangels den dritten finde, und daß, wenn noch eine Seite dazu gegeben, die bey- den andern Seiten ſo gut bekannt ſeyn, als wenn ſie waͤren ausgemeſſen worden, erſpart uns von ſechs Ausmeſſungen die Haͤlfte. Nach der gemeinen Er- kenntniß aber wuͤrden alle ſechs gleich nothwendig und jede fuͤr ſich vorgenommen werden muͤſſen. Hiebey iſt klar, daß, wenn die wirkliche Ausmeſſung aller ſechs Stuͤcke an ſich auch thunlich iſt, die Geometrie uns dennoch die Haͤlfte der Muͤhe erſpare, wo aber
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IX. Hauptſtuͤck,
hingegen ſich bey widerſinniſchen Dingen nicht aus-
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ſes und oͤfters trotziges Behaupten von ſich ſtoßen
kann. So pochen Empirici, das iſt, Leute, die alle
ihre Erkenntniß den Sinnen zu danken und hoͤchſtens
andern etwas abgelernt haben, auf die Erfahrung
und auf die Satzungen ihrer Lehrmeiſter.
§. 606.
Hingegen in der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß
macht man aus dieſem Stuͤckwerk ein Ganzes, die
Wahrheiten werden in derſelben von einander abhaͤn-
gig, man reicht dadurch uͤber den Geſichtskrais der
Sinnen hinaus, und erhaͤlt, was Cicero von der
Meßkunſt ſagt: In geometria ſi dederis, omnia
danda ſunt, und man kann beyfuͤgen, et vltra quam
quod credideris. Es iſt dieſes kein uͤbertriebener
Lobſpruch der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß. Denn
z. E. daß uns die Meßkunſt finden lehre, was durch
keine Erfahrung oder wirkliche Ausmeſſung gefunden
werden kann, daß ſie uns unzaͤhlige Ausmeſſungen
und unter dieſen die unmoͤglichen und die muͤhſamſten
erſpare, und uns mehr entdecke, als wir finden zu
koͤnnen glauben konnten, erhellet aus unzaͤhligen Bey-
ſpielen. Der einige Satz, daß man aus zween Win-
keln eines geradlinichten Triangels den dritten finde,
und daß, wenn noch eine Seite dazu gegeben, die bey-
den andern Seiten ſo gut bekannt ſeyn, als wenn
ſie waͤren ausgemeſſen worden, erſpart uns von ſechs
Ausmeſſungen die Haͤlfte. Nach der gemeinen Er-
kenntniß aber wuͤrden alle ſechs gleich nothwendig und
jede fuͤr ſich vorgenommen werden muͤſſen. Hiebey
iſt klar, daß, wenn die wirkliche Ausmeſſung aller
ſechs Stuͤcke an ſich auch thunlich iſt, die Geometrie
uns dennoch die Haͤlfte der Muͤhe erſpare, wo aber
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/412>, abgerufen am 21.11.2024.
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