die für jede Classe vorkommenden Fälle aus der Er- fahrung zu sammeln und abzuzählen; so findet sich dabey fast immer eine ungleiche Anzahl, und man kann daraus auf die ungleiche Möglichkeit der Fälle den Schluß machen, weil in dieser Absicht ein Fall, der häufiger vorkömmt, als möglicher angesehen wird. Da ich diese Lehre nebst der darauf gegründeten Be- rechnung der Wahrscheinlichkeit in dem fünften Haupt- stücke der Phänomenologie vorgetragen, so werde ich mich hier dabey nicht länger auf halten.
§. 337.
Wir können ferner anmerken, daß Epicur und seine Anhänger den blinden Zufall nicht in einem so strengen Verstande nehmen, wie wir ihn bisher be- trachtet haben. Epicur giebt Materie und bewegende Kräfte zu, ohne daß sie vom blinden Zufalle wären erschaffen worden. Er setzet aber, diese Materie sey von Ewigkeit her in einer anfangs unordentlichen Be- wegung gewesen; die Theilchen haben sich nach und nach abgerieben, bis sie eine Figur erhielten, die zur Bildung jeder Arten von Körpern dienlich wäre; nach vielen fehlgeschlagenen Ausbildungen sey es ein- mal so gelungen, daß es dabey habe sein Bewenden haben können etc. Diese Vorstellung mag nun etwann Dichter beschäfftigen, wenn sie das Chaos nach dem Spiele ihrer Einbildungskraft beschreiben wollen, und Ovid beschreibt es allerdings so, daß man es vor sich zu sehen glaubt. Allein mit den Gesetzen der Mechanic läßt sich eine so gelegentliche Entstehensart des Weltbaues gar nicht zusammenreimen, weil diese zeigen, daß ein System, welches nicht im Gleich- gewichte oder nicht im Beharrungsstande ist, sich demselben entweder in Form von Oscillationen oder
auf
XI. Hauptſtuͤck.
die fuͤr jede Claſſe vorkommenden Faͤlle aus der Er- fahrung zu ſammeln und abzuzaͤhlen; ſo findet ſich dabey faſt immer eine ungleiche Anzahl, und man kann daraus auf die ungleiche Moͤglichkeit der Faͤlle den Schluß machen, weil in dieſer Abſicht ein Fall, der haͤufiger vorkoͤmmt, als moͤglicher angeſehen wird. Da ich dieſe Lehre nebſt der darauf gegruͤndeten Be- rechnung der Wahrſcheinlichkeit in dem fuͤnften Haupt- ſtuͤcke der Phaͤnomenologie vorgetragen, ſo werde ich mich hier dabey nicht laͤnger auf halten.
§. 337.
Wir koͤnnen ferner anmerken, daß Epicur und ſeine Anhaͤnger den blinden Zufall nicht in einem ſo ſtrengen Verſtande nehmen, wie wir ihn bisher be- trachtet haben. Epicur giebt Materie und bewegende Kraͤfte zu, ohne daß ſie vom blinden Zufalle waͤren erſchaffen worden. Er ſetzet aber, dieſe Materie ſey von Ewigkeit her in einer anfangs unordentlichen Be- wegung geweſen; die Theilchen haben ſich nach und nach abgerieben, bis ſie eine Figur erhielten, die zur Bildung jeder Arten von Koͤrpern dienlich waͤre; nach vielen fehlgeſchlagenen Ausbildungen ſey es ein- mal ſo gelungen, daß es dabey habe ſein Bewenden haben koͤnnen ꝛc. Dieſe Vorſtellung mag nun etwann Dichter beſchaͤfftigen, wenn ſie das Chaos nach dem Spiele ihrer Einbildungskraft beſchreiben wollen, und Ovid beſchreibt es allerdings ſo, daß man es vor ſich zu ſehen glaubt. Allein mit den Geſetzen der Mechanic laͤßt ſich eine ſo gelegentliche Entſtehensart des Weltbaues gar nicht zuſammenreimen, weil dieſe zeigen, daß ein Syſtem, welches nicht im Gleich- gewichte oder nicht im Beharrungsſtande iſt, ſich demſelben entweder in Form von Oſcillationen oder
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XI. Hauptſtuͤck.
die fuͤr jede Claſſe vorkommenden Faͤlle aus der Er-
fahrung zu ſammeln und abzuzaͤhlen; ſo findet ſich
dabey faſt immer eine ungleiche Anzahl, und man
kann daraus auf die ungleiche Moͤglichkeit der Faͤlle
den Schluß machen, weil in dieſer Abſicht ein Fall,
der haͤufiger vorkoͤmmt, als moͤglicher angeſehen wird.
Da ich dieſe Lehre nebſt der darauf gegruͤndeten Be-
rechnung der Wahrſcheinlichkeit in dem fuͤnften Haupt-
ſtuͤcke der Phaͤnomenologie vorgetragen, ſo werde ich
mich hier dabey nicht laͤnger auf halten.
§. 337.
Wir koͤnnen ferner anmerken, daß Epicur und
ſeine Anhaͤnger den blinden Zufall nicht in einem ſo
ſtrengen Verſtande nehmen, wie wir ihn bisher be-
trachtet haben. Epicur giebt Materie und bewegende
Kraͤfte zu, ohne daß ſie vom blinden Zufalle waͤren
erſchaffen worden. Er ſetzet aber, dieſe Materie ſey
von Ewigkeit her in einer anfangs unordentlichen Be-
wegung geweſen; die Theilchen haben ſich nach und
nach abgerieben, bis ſie eine Figur erhielten, die zur
Bildung jeder Arten von Koͤrpern dienlich waͤre;
nach vielen fehlgeſchlagenen Ausbildungen ſey es ein-
mal ſo gelungen, daß es dabey habe ſein Bewenden
haben koͤnnen ꝛc. Dieſe Vorſtellung mag nun etwann
Dichter beſchaͤfftigen, wenn ſie das Chaos nach dem
Spiele ihrer Einbildungskraft beſchreiben wollen, und
Ovid beſchreibt es allerdings ſo, daß man es vor
ſich zu ſehen glaubt. Allein mit den Geſetzen der
Mechanic laͤßt ſich eine ſo gelegentliche Entſtehensart
des Weltbaues gar nicht zuſammenreimen, weil dieſe
zeigen, daß ein Syſtem, welches nicht im Gleich-
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Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic. Bd. 1. Riga, 1771, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_architectonic01_1771/364>, abgerufen am 23.02.2025.
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