Christinens Brief war immer noch nicht fertig, und ihr Vater hatte den Weg zum Pfarrer und Chirurgus gleichfalls noch nicht ge¬ funden, da verbreitete sich eines Tags im Flecken das Geschrei, des Sonnenwirths Frieder sei wieder da oder wenigstens im Anzuge be¬ griffen. Die Nachricht drang mit großer Schnelligkeit selbst zu dem entlegenen Hause des Hirschbauers, und einer von Christinens Brü¬ dern machte sich sogleich auf, um Kundschaft einzuziehen. Es verhielt sich wirklich so, wie das Gerücht sagte. Ein Fuhrmann, der in der Sonne einkehrte, hatte den Erben derselben unterwegs, und zwar in ziemlich abgerissenem Zustande, angetroffen; zur Bestätigung, daß er die Wahrheit sage, zeigte er ein Schreiben vor, das ihm der Wanderer mitgegeben hatte, um es an denjenigen seiner beiden Schwäger, zu welchem er noch das meiste Vertrauen hatte, zu bestellen. Es ging so eben sehr lebhaft in der Sonne zu, weshalb die Neuigkeit wie ein Lauffeuer sich verbreitete. Der Fuhrmann erzählte noch, er habe den Frieder aufsitzen heißen; derselbe habe sich aber geweigert, da er nicht nach Hause kommen wolle, bis er wisse wie er aufgenommen werde. Er gab den Brief einem Knechte, der ihn zum Chirurgus hinüber trug. Dieser ließ nach einer Weile dem Sonnenwirth sagen, es sei endlich Nachricht von seinem Sohne da; wenn der Herr Vater aufge¬ legt sei, sie zu hören, so wolle er mit dem Briefe herüberkommen. Der Sonnenwirth antwortete, er habe im Augenblick alle Hände voll zu thun, und auf den Abend wolle er Ruhe haben; morgen sei auch ein Tag, um von verdrießlichen Dingen zu reden.
Auf den andern Tag wurde in der Sonne ein Familienrath zu¬ sammenberufen, welchem der Chirurgus den Brief seines jungen Schwa¬ gers vorlas. Derselbe lautete gleich Eingangs so über alle Maßen niedergeschlagen und unterwürfig, daß die Sonnenwirthin einmal über das andre in ein triumphirendes Gelächter ausbrach. "Geliebter Schwager", las der Chirurg, "ich weiß mir nicht mehr zu helfen, so
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 11
15.
Chriſtinens Brief war immer noch nicht fertig, und ihr Vater hatte den Weg zum Pfarrer und Chirurgus gleichfalls noch nicht ge¬ funden, da verbreitete ſich eines Tags im Flecken das Geſchrei, des Sonnenwirths Frieder ſei wieder da oder wenigſtens im Anzuge be¬ griffen. Die Nachricht drang mit großer Schnelligkeit ſelbſt zu dem entlegenen Hauſe des Hirſchbauers, und einer von Chriſtinens Brü¬ dern machte ſich ſogleich auf, um Kundſchaft einzuziehen. Es verhielt ſich wirklich ſo, wie das Gerücht ſagte. Ein Fuhrmann, der in der Sonne einkehrte, hatte den Erben derſelben unterwegs, und zwar in ziemlich abgeriſſenem Zuſtande, angetroffen; zur Beſtätigung, daß er die Wahrheit ſage, zeigte er ein Schreiben vor, das ihm der Wanderer mitgegeben hatte, um es an denjenigen ſeiner beiden Schwäger, zu welchem er noch das meiſte Vertrauen hatte, zu beſtellen. Es ging ſo eben ſehr lebhaft in der Sonne zu, weshalb die Neuigkeit wie ein Lauffeuer ſich verbreitete. Der Fuhrmann erzählte noch, er habe den Frieder aufſitzen heißen; derſelbe habe ſich aber geweigert, da er nicht nach Hauſe kommen wolle, bis er wiſſe wie er aufgenommen werde. Er gab den Brief einem Knechte, der ihn zum Chirurgus hinüber trug. Dieſer ließ nach einer Weile dem Sonnenwirth ſagen, es ſei endlich Nachricht von ſeinem Sohne da; wenn der Herr Vater aufge¬ legt ſei, ſie zu hören, ſo wolle er mit dem Briefe herüberkommen. Der Sonnenwirth antwortete, er habe im Augenblick alle Hände voll zu thun, und auf den Abend wolle er Ruhe haben; morgen ſei auch ein Tag, um von verdrießlichen Dingen zu reden.
Auf den andern Tag wurde in der Sonne ein Familienrath zu¬ ſammenberufen, welchem der Chirurgus den Brief ſeines jungen Schwa¬ gers vorlas. Derſelbe lautete gleich Eingangs ſo über alle Maßen niedergeſchlagen und unterwürfig, daß die Sonnenwirthin einmal über das andre in ein triumphirendes Gelächter ausbrach. „Geliebter Schwager“, las der Chirurg, „ich weiß mir nicht mehr zu helfen, ſo
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Chriſtinens Brief war immer noch nicht fertig, und ihr Vater
hatte den Weg zum Pfarrer und Chirurgus gleichfalls noch nicht ge¬
funden, da verbreitete ſich eines Tags im Flecken das Geſchrei, des
Sonnenwirths Frieder ſei wieder da oder wenigſtens im Anzuge be¬
griffen. Die Nachricht drang mit großer Schnelligkeit ſelbſt zu dem
entlegenen Hauſe des Hirſchbauers, und einer von Chriſtinens Brü¬
dern machte ſich ſogleich auf, um Kundſchaft einzuziehen. Es verhielt
ſich wirklich ſo, wie das Gerücht ſagte. Ein Fuhrmann, der in der
Sonne einkehrte, hatte den Erben derſelben unterwegs, und zwar in
ziemlich abgeriſſenem Zuſtande, angetroffen; zur Beſtätigung, daß er
die Wahrheit ſage, zeigte er ein Schreiben vor, das ihm der Wanderer
mitgegeben hatte, um es an denjenigen ſeiner beiden Schwäger, zu
welchem er noch das meiſte Vertrauen hatte, zu beſtellen. Es ging
ſo eben ſehr lebhaft in der Sonne zu, weshalb die Neuigkeit wie ein
Lauffeuer ſich verbreitete. Der Fuhrmann erzählte noch, er habe den
Frieder aufſitzen heißen; derſelbe habe ſich aber geweigert, da er nicht
nach Hauſe kommen wolle, bis er wiſſe wie er aufgenommen werde.
Er gab den Brief einem Knechte, der ihn zum Chirurgus hinüber
trug. Dieſer ließ nach einer Weile dem Sonnenwirth ſagen, es ſei
endlich Nachricht von ſeinem Sohne da; wenn der Herr Vater aufge¬
legt ſei, ſie zu hören, ſo wolle er mit dem Briefe herüberkommen.
Der Sonnenwirth antwortete, er habe im Augenblick alle Hände voll
zu thun, und auf den Abend wolle er Ruhe haben; morgen ſei auch
ein Tag, um von verdrießlichen Dingen zu reden.
Auf den andern Tag wurde in der Sonne ein Familienrath zu¬
ſammenberufen, welchem der Chirurgus den Brief ſeines jungen Schwa¬
gers vorlas. Derſelbe lautete gleich Eingangs ſo über alle Maßen
niedergeſchlagen und unterwürfig, daß die Sonnenwirthin einmal über
das andre in ein triumphirendes Gelächter ausbrach. „Geliebter
Schwager“, las der Chirurg, „ich weiß mir nicht mehr zu helfen, ſo
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 11
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/177>, abgerufen am 21.11.2024.
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