Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kuhnow, Anna: Gedanken und Erfahrungen über Frauenbildung und Frauenberuf. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

Jeder Mensch sieht die Welt aus seinem subjectiven
Gesichtswinkel, durch die Brille seiner Erfahrungen, und
auch der angeblich objectivsten Betrachtung hängt die Per-
sönlichkeit des Betrachtenden an. Ganz besonders dürfen
wir bei Ansichten über Zustände im Gesellschaftsleben, die
auf die Lebensverhältnisse des Betrachtenden von eingrei-
fender Wichtigkeit sind, nur eine sehr relative Objectivität
erwarten, und deshalb können die folgenden Auslassungen
über die Frauenfrage nicht den praetentiösen Anspruch einer
objectiven Kritik machen.

Sie sollen nur ungefähr den Gesichtskreis einer Frau
wiederspiegeln, die seit ihrer Kindheit, zuerst unbewusst,
später bewusst mitten in dem Kampfe um die Befreiung
ihres Geschlechts aus den Vorurtheilen von Jahrtausenden
gestanden hat, der überall durch ihre Erfahrungen in Kind-
heit, Jugend und reifem Frauenalter das Nachdenken über
die Stellung der Frau, wie sie ist und wie sie sein sollte,
nahegelegt wurde. Anders sind ihre Ansichten heut, als
sie im Sturm der Jugend waren, aber ein Gedanke ist den-
selben wie ein rother Faden treu geblieben: Die Frauen-
frage kann nicht allein von den Frauen und für die Frauen
gelöst werden, weil sie durchaus sich nicht einseitig mit dem
Interesse der Frau beschäftigt, die Frauenfrage ist eine
Männer- eine Menschlichkeitsfrage, welche es verdient, von
allen Seiten
auch von Männern bedacht zu werden, denn

1*

Jeder Mensch sieht die Welt aus seinem subjectiven
Gesichtswinkel, durch die Brille seiner Erfahrungen, und
auch der angeblich objectivsten Betrachtung hängt die Per-
sönlichkeit des Betrachtenden an. Ganz besonders dürfen
wir bei Ansichten über Zustände im Gesellschaftsleben, die
auf die Lebensverhältnisse des Betrachtenden von eingrei-
fender Wichtigkeit sind, nur eine sehr relative Objectivität
erwarten, und deshalb können die folgenden Auslassungen
über die Frauenfrage nicht den praetentiösen Anspruch einer
objectiven Kritik machen.

Sie sollen nur ungefähr den Gesichtskreis einer Frau
wiederspiegeln, die seit ihrer Kindheit, zuerst unbewusst,
später bewusst mitten in dem Kampfe um die Befreiung
ihres Geschlechts aus den Vorurtheilen von Jahrtausenden
gestanden hat, der überall durch ihre Erfahrungen in Kind-
heit, Jugend und reifem Frauenalter das Nachdenken über
die Stellung der Frau, wie sie ist und wie sie sein sollte,
nahegelegt wurde. Anders sind ihre Ansichten heut, als
sie im Sturm der Jugend waren, aber ein Gedanke ist den-
selben wie ein rother Faden treu geblieben: Die Frauen-
frage kann nicht allein von den Frauen und für die Frauen
gelöst werden, weil sie durchaus sich nicht einseitig mit dem
Interesse der Frau beschäftigt, die Frauenfrage ist eine
Männer- eine Menschlichkeitsfrage, welche es verdient, von
allen Seiten
auch von Männern bedacht zu werden, denn

1*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0004" n="3"/>
      <div n="1">
        <p><hi rendition="#in">J</hi>eder Mensch sieht die Welt aus seinem subjectiven<lb/>
Gesichtswinkel, durch die Brille seiner Erfahrungen, und<lb/>
auch der angeblich objectivsten Betrachtung hängt die Per-<lb/>
sönlichkeit des Betrachtenden an. Ganz besonders dürfen<lb/>
wir bei Ansichten über Zustände im Gesellschaftsleben, die<lb/>
auf die Lebensverhältnisse des Betrachtenden von eingrei-<lb/>
fender Wichtigkeit sind, nur eine sehr relative Objectivität<lb/>
erwarten, und deshalb können die folgenden Auslassungen<lb/>
über die Frauenfrage nicht den praetentiösen Anspruch einer<lb/>
objectiven Kritik machen.</p><lb/>
        <p>Sie sollen nur ungefähr den Gesichtskreis einer Frau<lb/>
wiederspiegeln, die seit ihrer Kindheit, zuerst unbewusst,<lb/>
später bewusst mitten in dem Kampfe um die Befreiung<lb/>
ihres Geschlechts aus den Vorurtheilen von Jahrtausenden<lb/>
gestanden hat, der überall durch ihre Erfahrungen in Kind-<lb/>
heit, Jugend und reifem Frauenalter das Nachdenken über<lb/>
die Stellung der Frau, wie sie ist und wie sie sein sollte,<lb/>
nahegelegt wurde. Anders sind ihre Ansichten heut, als<lb/>
sie im Sturm der Jugend waren, aber ein Gedanke ist den-<lb/>
selben wie ein rother Faden treu geblieben: Die Frauen-<lb/>
frage kann nicht allein von den Frauen und für die Frauen<lb/>
gelöst werden, weil sie durchaus sich nicht einseitig mit dem<lb/>
Interesse der Frau beschäftigt, die Frauenfrage ist eine<lb/>
Männer- eine Menschlichkeitsfrage, welche es verdient, <hi rendition="#g">von<lb/>
allen Seiten</hi> auch von Männern bedacht zu werden, denn<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">1*</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[3/0004] Jeder Mensch sieht die Welt aus seinem subjectiven Gesichtswinkel, durch die Brille seiner Erfahrungen, und auch der angeblich objectivsten Betrachtung hängt die Per- sönlichkeit des Betrachtenden an. Ganz besonders dürfen wir bei Ansichten über Zustände im Gesellschaftsleben, die auf die Lebensverhältnisse des Betrachtenden von eingrei- fender Wichtigkeit sind, nur eine sehr relative Objectivität erwarten, und deshalb können die folgenden Auslassungen über die Frauenfrage nicht den praetentiösen Anspruch einer objectiven Kritik machen. Sie sollen nur ungefähr den Gesichtskreis einer Frau wiederspiegeln, die seit ihrer Kindheit, zuerst unbewusst, später bewusst mitten in dem Kampfe um die Befreiung ihres Geschlechts aus den Vorurtheilen von Jahrtausenden gestanden hat, der überall durch ihre Erfahrungen in Kind- heit, Jugend und reifem Frauenalter das Nachdenken über die Stellung der Frau, wie sie ist und wie sie sein sollte, nahegelegt wurde. Anders sind ihre Ansichten heut, als sie im Sturm der Jugend waren, aber ein Gedanke ist den- selben wie ein rother Faden treu geblieben: Die Frauen- frage kann nicht allein von den Frauen und für die Frauen gelöst werden, weil sie durchaus sich nicht einseitig mit dem Interesse der Frau beschäftigt, die Frauenfrage ist eine Männer- eine Menschlichkeitsfrage, welche es verdient, von allen Seiten auch von Männern bedacht zu werden, denn 1*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Frauenstudium, betreut von Andreas Neumann und Anna Pfundt, FSU Jena und JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2024-05-30T15:49:03Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2024-05-29T13:39:03Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kuhnow_gedanken_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kuhnow_gedanken_1896/4
Zitationshilfe: Kuhnow, Anna: Gedanken und Erfahrungen über Frauenbildung und Frauenberuf. Leipzig, 1896, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuhnow_gedanken_1896/4>, abgerufen am 21.12.2024.