Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite
Fünftes Kapitel.

So erwachte Moorfeld zu seinem letzten Morgen in Amerika.
Tags nach diesem Abend fuhr er mit der ersten Geschäftsstunde an
den Hafen, entschlossen, jede Gelegenheit nach jeden europäischen See¬
platz anzunehmen, einzig bedingend, daß die Anker noch heute gelichtet
wurden. Er fand ein Dampfboot, dessen Abfahrt auf zehn Uhr
festgesetzt war. Natürlich waren die Plätze besetzt, aber ein junger fran¬
zösischer Arzt, der in Amerika eine Studienreise gemacht, hatte die Ar¬
tigkeit, ihm seinen ersten Cajütenplatz zu verkaufen. Das Dampfboot
hieß -- Riego.

Die Stadt Newyork feierte der Einschiffung Moorfeld's ein wildes
Abschiedsfest. Wie die Fugen der Alltagsordnung schon seit zwei Ta¬
gen oder vielmehr Abenden in ein verdächtiges Schwanken und Krachen
gerathen, haben wir mitten aus dem erschütterungsvollen Eigenleben Moor¬
feld's heraus im Fluge bemerkt. Aber bei seinem heutigen Erwachen fand
er die Pulvermine in voller Explosion. Schon auf der Fahrt nach
dem Hafen zeigte die Stadt ein entsetzliches Antlitz. Arbeiter, welche
in ihre Fabriken zogen, standen überall in bestürzten Gruppen umher,
Kaufläden blieben verschlossen, und stierten, wie von einem bösen Traum
befangen, mit den Vorhängschlössern der Nacht in den hellen Tag hin¬
ein, die belebtesten Passagen waren unverhältnißmäßig öde, oder was
sich von Menschen und Wagen bewegte, schien wieder in rückgängiger
Bewegung vom Tagesgeschäft begriffen -- Alles trug die Miene der
Angst und Verwirrung. Moorfeld, in seinem gräßlichen Seelenkrampf
keines äußeren Eindruckes fähig, fuhr durch diese Scene ohne sie zu
bemerken, bemerkte sie, ohne zu fühlen und zu denken. Erst am Ha¬
fen drang sich das öffentliche Zittern unwillkürlich seinem Interesse
aus. Ueberall begegnete er bangen Gesichtern. Ueberall wurde er be¬
fragt, was er von den Ereignissen der Nacht wisse, überall liefen Men¬

Fünftes Kapitel.

So erwachte Moorfeld zu ſeinem letzten Morgen in Amerika.
Tags nach dieſem Abend fuhr er mit der erſten Geſchäftsſtunde an
den Hafen, entſchloſſen, jede Gelegenheit nach jeden europäiſchen See¬
platz anzunehmen, einzig bedingend, daß die Anker noch heute gelichtet
wurden. Er fand ein Dampfboot, deſſen Abfahrt auf zehn Uhr
feſtgeſetzt war. Natürlich waren die Plätze beſetzt, aber ein junger fran¬
zöſiſcher Arzt, der in Amerika eine Studienreiſe gemacht, hatte die Ar¬
tigkeit, ihm ſeinen erſten Cajütenplatz zu verkaufen. Das Dampfboot
hieß — Riego.

Die Stadt Newyork feierte der Einſchiffung Moorfeld's ein wildes
Abſchiedsfeſt. Wie die Fugen der Alltagsordnung ſchon ſeit zwei Ta¬
gen oder vielmehr Abenden in ein verdächtiges Schwanken und Krachen
gerathen, haben wir mitten aus dem erſchütterungsvollen Eigenleben Moor¬
feld's heraus im Fluge bemerkt. Aber bei ſeinem heutigen Erwachen fand
er die Pulvermine in voller Exploſion. Schon auf der Fahrt nach
dem Hafen zeigte die Stadt ein entſetzliches Antlitz. Arbeiter, welche
in ihre Fabriken zogen, ſtanden überall in beſtürzten Gruppen umher,
Kaufläden blieben verſchloſſen, und ſtierten, wie von einem böſen Traum
befangen, mit den Vorhängſchlöſſern der Nacht in den hellen Tag hin¬
ein, die belebteſten Paſſagen waren unverhältnißmäßig öde, oder was
ſich von Menſchen und Wagen bewegte, ſchien wieder in rückgängiger
Bewegung vom Tagesgeſchäft begriffen — Alles trug die Miene der
Angſt und Verwirrung. Moorfeld, in ſeinem gräßlichen Seelenkrampf
keines äußeren Eindruckes fähig, fuhr durch dieſe Scene ohne ſie zu
bemerken, bemerkte ſie, ohne zu fühlen und zu denken. Erſt am Ha¬
fen drang ſich das öffentliche Zittern unwillkürlich ſeinem Intereſſe
aus. Ueberall begegnete er bangen Geſichtern. Ueberall wurde er be¬
fragt, was er von den Ereigniſſen der Nacht wiſſe, überall liefen Men¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0513" n="495"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b #g">Fünftes Kapitel.</hi><lb/>
          </head>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>So erwachte Moorfeld zu &#x017F;einem letzten Morgen in Amerika.<lb/>
Tags nach die&#x017F;em Abend fuhr er mit der er&#x017F;ten Ge&#x017F;chäfts&#x017F;tunde an<lb/>
den Hafen, ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, jede Gelegenheit nach jeden europäi&#x017F;chen See¬<lb/>
platz anzunehmen, einzig bedingend, daß die Anker noch heute gelichtet<lb/>
wurden. Er fand ein Dampfboot, de&#x017F;&#x017F;en Abfahrt auf zehn Uhr<lb/>
fe&#x017F;tge&#x017F;etzt war. Natürlich waren die Plätze be&#x017F;etzt, aber ein junger fran¬<lb/>&#x017F;i&#x017F;cher Arzt, der in Amerika eine Studienrei&#x017F;e gemacht, hatte die Ar¬<lb/>
tigkeit, ihm &#x017F;einen er&#x017F;ten Cajütenplatz zu verkaufen. Das Dampfboot<lb/>
hieß &#x2014; Riego.</p><lb/>
          <p>Die Stadt Newyork feierte der Ein&#x017F;chiffung Moorfeld's ein wildes<lb/>
Ab&#x017F;chiedsfe&#x017F;t. Wie die Fugen der Alltagsordnung &#x017F;chon &#x017F;eit zwei Ta¬<lb/>
gen oder vielmehr Abenden in ein verdächtiges Schwanken und Krachen<lb/>
gerathen, haben wir mitten aus dem er&#x017F;chütterungsvollen Eigenleben Moor¬<lb/>
feld's heraus im Fluge bemerkt. Aber bei &#x017F;einem heutigen Erwachen fand<lb/>
er die Pulvermine in voller Explo&#x017F;ion. Schon auf der Fahrt nach<lb/>
dem Hafen zeigte die Stadt ein ent&#x017F;etzliches Antlitz. Arbeiter, welche<lb/>
in ihre Fabriken zogen, &#x017F;tanden überall in be&#x017F;türzten Gruppen umher,<lb/>
Kaufläden blieben ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, und &#x017F;tierten, wie von einem bö&#x017F;en Traum<lb/>
befangen, mit den Vorhäng&#x017F;chlö&#x017F;&#x017F;ern der Nacht in den hellen Tag hin¬<lb/>
ein, die belebte&#x017F;ten Pa&#x017F;&#x017F;agen waren unverhältnißmäßig öde, oder was<lb/>
&#x017F;ich von Men&#x017F;chen und Wagen bewegte, &#x017F;chien wieder in rückgängiger<lb/>
Bewegung vom Tagesge&#x017F;chäft begriffen &#x2014; Alles trug die Miene der<lb/>
Ang&#x017F;t und Verwirrung. Moorfeld, in &#x017F;einem gräßlichen Seelenkrampf<lb/>
keines äußeren Eindruckes fähig, fuhr durch die&#x017F;e Scene ohne &#x017F;ie zu<lb/>
bemerken, bemerkte &#x017F;ie, ohne zu fühlen und zu denken. Er&#x017F;t am Ha¬<lb/>
fen drang &#x017F;ich das öffentliche Zittern unwillkürlich &#x017F;einem Intere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
aus. Ueberall begegnete er bangen Ge&#x017F;ichtern. Ueberall wurde er be¬<lb/>
fragt, was er von den Ereigni&#x017F;&#x017F;en der Nacht wi&#x017F;&#x017F;e, überall liefen Men¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[495/0513] Fünftes Kapitel. So erwachte Moorfeld zu ſeinem letzten Morgen in Amerika. Tags nach dieſem Abend fuhr er mit der erſten Geſchäftsſtunde an den Hafen, entſchloſſen, jede Gelegenheit nach jeden europäiſchen See¬ platz anzunehmen, einzig bedingend, daß die Anker noch heute gelichtet wurden. Er fand ein Dampfboot, deſſen Abfahrt auf zehn Uhr feſtgeſetzt war. Natürlich waren die Plätze beſetzt, aber ein junger fran¬ zöſiſcher Arzt, der in Amerika eine Studienreiſe gemacht, hatte die Ar¬ tigkeit, ihm ſeinen erſten Cajütenplatz zu verkaufen. Das Dampfboot hieß — Riego. Die Stadt Newyork feierte der Einſchiffung Moorfeld's ein wildes Abſchiedsfeſt. Wie die Fugen der Alltagsordnung ſchon ſeit zwei Ta¬ gen oder vielmehr Abenden in ein verdächtiges Schwanken und Krachen gerathen, haben wir mitten aus dem erſchütterungsvollen Eigenleben Moor¬ feld's heraus im Fluge bemerkt. Aber bei ſeinem heutigen Erwachen fand er die Pulvermine in voller Exploſion. Schon auf der Fahrt nach dem Hafen zeigte die Stadt ein entſetzliches Antlitz. Arbeiter, welche in ihre Fabriken zogen, ſtanden überall in beſtürzten Gruppen umher, Kaufläden blieben verſchloſſen, und ſtierten, wie von einem böſen Traum befangen, mit den Vorhängſchlöſſern der Nacht in den hellen Tag hin¬ ein, die belebteſten Paſſagen waren unverhältnißmäßig öde, oder was ſich von Menſchen und Wagen bewegte, ſchien wieder in rückgängiger Bewegung vom Tagesgeſchäft begriffen — Alles trug die Miene der Angſt und Verwirrung. Moorfeld, in ſeinem gräßlichen Seelenkrampf keines äußeren Eindruckes fähig, fuhr durch dieſe Scene ohne ſie zu bemerken, bemerkte ſie, ohne zu fühlen und zu denken. Erſt am Ha¬ fen drang ſich das öffentliche Zittern unwillkürlich ſeinem Intereſſe aus. Ueberall begegnete er bangen Geſichtern. Ueberall wurde er be¬ fragt, was er von den Ereigniſſen der Nacht wiſſe, überall liefen Men¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/513
Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/513>, abgerufen am 22.12.2024.