Eine Woche später, man schrieb den 4. Mai, befand sich Franz in der Laube des Gärtchens, wo er allein sein Essen einnahm. Der Flieder stand in voller Blüthe. Knospe auf Knospe hatte sich aufgethan und eine seltene Wärme der Luft ließ die Pracht des nahenden Sommers ahnen. Die Drehbänke standen bereits still, friedliches Schweigen herrschte in dem Häuschen. Sieben Uhr war kaum vorüber, der Himmel hell und durchsichtig, so daß dem Blick eine weite Aussicht gestattet wurde.
Die Mauer zeigte noch immer ihre klaffende Oeffnung, denn es war nun fraglich geworden, ob man sie nicht ganz niederlegen solle, um eine elegante, architektonisch verschönerte, an ihre Stelle zu setzen.
Da Meister Timpe auf eine Stunde seine alte Stamm¬ kneipe, drüben auf der anderen Seite der Straße (Vater Jamrath's Weißbier war im ganzen Viertel berühmt) auf¬ gesucht hatte, so war in Franz die alte Lust erwacht, die seit Jahren in ihm nicht mehr rege werden durfte: dem Nach¬
V. Fräulein Emma.
Eine Woche ſpäter, man ſchrieb den 4. Mai, befand ſich Franz in der Laube des Gärtchens, wo er allein ſein Eſſen einnahm. Der Flieder ſtand in voller Blüthe. Knospe auf Knospe hatte ſich aufgethan und eine ſeltene Wärme der Luft ließ die Pracht des nahenden Sommers ahnen. Die Drehbänke ſtanden bereits ſtill, friedliches Schweigen herrſchte in dem Häuschen. Sieben Uhr war kaum vorüber, der Himmel hell und durchſichtig, ſo daß dem Blick eine weite Ausſicht geſtattet wurde.
Die Mauer zeigte noch immer ihre klaffende Oeffnung, denn es war nun fraglich geworden, ob man ſie nicht ganz niederlegen ſolle, um eine elegante, architektoniſch verſchönerte, an ihre Stelle zu ſetzen.
Da Meiſter Timpe auf eine Stunde ſeine alte Stamm¬ kneipe, drüben auf der anderen Seite der Straße (Vater Jamrath's Weißbier war im ganzen Viertel berühmt) auf¬ geſucht hatte, ſo war in Franz die alte Luſt erwacht, die ſeit Jahren in ihm nicht mehr rege werden durfte: dem Nach¬
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0060"n="[48]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="1"><head><hirendition="#aq">V.</hi><lb/><hirendition="#b #fr">Fräulein Emma.</hi><lb/></head><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p><hirendition="#in">E</hi>ine Woche ſpäter, man ſchrieb den 4. Mai, befand ſich<lb/>
Franz in der Laube des Gärtchens, wo er allein ſein<lb/>
Eſſen einnahm. Der Flieder ſtand in voller Blüthe.<lb/>
Knospe auf Knospe hatte ſich aufgethan und eine ſeltene<lb/>
Wärme der Luft ließ die Pracht des nahenden Sommers<lb/>
ahnen. Die Drehbänke ſtanden bereits ſtill, friedliches Schweigen<lb/>
herrſchte in dem Häuschen. Sieben Uhr war kaum vorüber,<lb/>
der Himmel hell und durchſichtig, ſo daß dem Blick eine weite<lb/>
Ausſicht geſtattet wurde.</p><lb/><p>Die Mauer zeigte noch immer ihre klaffende Oeffnung,<lb/>
denn es war nun fraglich geworden, ob man ſie nicht ganz<lb/>
niederlegen ſolle, um eine elegante, architektoniſch verſchönerte,<lb/>
an ihre Stelle zu ſetzen.</p><lb/><p>Da Meiſter Timpe auf eine Stunde ſeine alte Stamm¬<lb/>
kneipe, drüben auf der anderen Seite der Straße (Vater<lb/>
Jamrath's Weißbier war im ganzen Viertel berühmt) auf¬<lb/>
geſucht hatte, ſo war in Franz die alte Luſt erwacht, die ſeit<lb/>
Jahren in ihm nicht mehr rege werden durfte: dem Nach¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[[48]/0060]
V.
Fräulein Emma.
Eine Woche ſpäter, man ſchrieb den 4. Mai, befand ſich
Franz in der Laube des Gärtchens, wo er allein ſein
Eſſen einnahm. Der Flieder ſtand in voller Blüthe.
Knospe auf Knospe hatte ſich aufgethan und eine ſeltene
Wärme der Luft ließ die Pracht des nahenden Sommers
ahnen. Die Drehbänke ſtanden bereits ſtill, friedliches Schweigen
herrſchte in dem Häuschen. Sieben Uhr war kaum vorüber,
der Himmel hell und durchſichtig, ſo daß dem Blick eine weite
Ausſicht geſtattet wurde.
Die Mauer zeigte noch immer ihre klaffende Oeffnung,
denn es war nun fraglich geworden, ob man ſie nicht ganz
niederlegen ſolle, um eine elegante, architektoniſch verſchönerte,
an ihre Stelle zu ſetzen.
Da Meiſter Timpe auf eine Stunde ſeine alte Stamm¬
kneipe, drüben auf der anderen Seite der Straße (Vater
Jamrath's Weißbier war im ganzen Viertel berühmt) auf¬
geſucht hatte, ſo war in Franz die alte Luſt erwacht, die ſeit
Jahren in ihm nicht mehr rege werden durfte: dem Nach¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. [48]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/60>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.