Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

VII.
Große Toilette.

Den ganzen Winter hindurch, der von seltener Strenge war,
mußte der Bau der Fabrik ruhen. Zu Herrn Ferdinand
Friedrich Urban's großem Kummer! Da die rauhe Jahres¬
zeit es nicht gestattete, die "Warte" zu besteigen, so streckte
Johannes Timpe von nun an jeden Tag den Kopf durch
die Bodenluke, um seine Neugierde zu befriedigen.
Wenn er bei dem fahlen Licht der Abenddämmerung
seinen Blick zu dem bereits fertigen Rohbau hinüber¬
sandte, so war es ihm, als grinsten ihn die dunklen Fenster¬
höhlungen der schneebedeckten Brandmauer wie eben so viele
Augen eines Ungeheuers an. Seine stark ausgeprägte Phantasie
begann ihre Wirkung zu thun.

Sobald der erste Sonnenstrahl sich wieder zeigte, erschien
Urban auf dem Bauplatz und erhob seine Nase zum Himmel,
als wolle er diesen für die Unterbrechung der Arbeit an¬
klagen. In einen bis zur Erde reichenden Pelz gehüllt,
einen Shwal mehrmals um den Hals geschlungen, eine eng¬
lische Stoffmütze weit in die Stirn gedrückt, schnüffelte er in allen


VII.
Große Toilette.

Den ganzen Winter hindurch, der von ſeltener Strenge war,
mußte der Bau der Fabrik ruhen. Zu Herrn Ferdinand
Friedrich Urban's großem Kummer! Da die rauhe Jahres¬
zeit es nicht geſtattete, die „Warte“ zu beſteigen, ſo ſtreckte
Johannes Timpe von nun an jeden Tag den Kopf durch
die Bodenluke, um ſeine Neugierde zu befriedigen.
Wenn er bei dem fahlen Licht der Abenddämmerung
ſeinen Blick zu dem bereits fertigen Rohbau hinüber¬
ſandte, ſo war es ihm, als grinsten ihn die dunklen Fenſter¬
höhlungen der ſchneebedeckten Brandmauer wie eben ſo viele
Augen eines Ungeheuers an. Seine ſtark ausgeprägte Phantaſie
begann ihre Wirkung zu thun.

Sobald der erſte Sonnenſtrahl ſich wieder zeigte, erſchien
Urban auf dem Bauplatz und erhob ſeine Naſe zum Himmel,
als wolle er dieſen für die Unterbrechung der Arbeit an¬
klagen. In einen bis zur Erde reichenden Pelz gehüllt,
einen Shwal mehrmals um den Hals geſchlungen, eine eng¬
liſche Stoffmütze weit in die Stirn gedrückt, ſchnüffelte er in allen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0107" n="[95]"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#aq">VII.</hi><lb/> <hi rendition="#b #fr">Große Toilette.</hi><lb/>
        </head>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p><hi rendition="#in">D</hi>en ganzen Winter hindurch, der von &#x017F;eltener Strenge war,<lb/>
mußte der Bau der Fabrik ruhen. Zu Herrn Ferdinand<lb/>
Friedrich Urban's großem Kummer! Da die rauhe Jahres¬<lb/>
zeit es nicht ge&#x017F;tattete, die &#x201E;Warte&#x201C; zu be&#x017F;teigen, &#x017F;o &#x017F;treckte<lb/>
Johannes Timpe von nun an jeden Tag den Kopf durch<lb/>
die Bodenluke, um &#x017F;eine Neugierde zu befriedigen.<lb/>
Wenn er bei dem fahlen Licht der Abenddämmerung<lb/>
&#x017F;einen Blick zu dem bereits fertigen Rohbau hinüber¬<lb/>
&#x017F;andte, &#x017F;o war es ihm, als grinsten ihn die dunklen Fen&#x017F;ter¬<lb/>
höhlungen der &#x017F;chneebedeckten Brandmauer wie eben &#x017F;o viele<lb/>
Augen eines Ungeheuers an. Seine &#x017F;tark ausgeprägte Phanta&#x017F;ie<lb/>
begann ihre Wirkung zu thun.</p><lb/>
        <p>Sobald der er&#x017F;te Sonnen&#x017F;trahl &#x017F;ich wieder zeigte, er&#x017F;chien<lb/>
Urban auf dem Bauplatz und erhob &#x017F;eine Na&#x017F;e zum Himmel,<lb/>
als wolle er die&#x017F;en für die Unterbrechung der Arbeit an¬<lb/>
klagen. In einen bis zur Erde reichenden Pelz gehüllt,<lb/>
einen Shwal mehrmals um den Hals ge&#x017F;chlungen, eine eng¬<lb/>
li&#x017F;che Stoffmütze weit in die Stirn gedrückt, &#x017F;chnüffelte er in allen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[95]/0107] VII. Große Toilette. Den ganzen Winter hindurch, der von ſeltener Strenge war, mußte der Bau der Fabrik ruhen. Zu Herrn Ferdinand Friedrich Urban's großem Kummer! Da die rauhe Jahres¬ zeit es nicht geſtattete, die „Warte“ zu beſteigen, ſo ſtreckte Johannes Timpe von nun an jeden Tag den Kopf durch die Bodenluke, um ſeine Neugierde zu befriedigen. Wenn er bei dem fahlen Licht der Abenddämmerung ſeinen Blick zu dem bereits fertigen Rohbau hinüber¬ ſandte, ſo war es ihm, als grinsten ihn die dunklen Fenſter¬ höhlungen der ſchneebedeckten Brandmauer wie eben ſo viele Augen eines Ungeheuers an. Seine ſtark ausgeprägte Phantaſie begann ihre Wirkung zu thun. Sobald der erſte Sonnenſtrahl ſich wieder zeigte, erſchien Urban auf dem Bauplatz und erhob ſeine Naſe zum Himmel, als wolle er dieſen für die Unterbrechung der Arbeit an¬ klagen. In einen bis zur Erde reichenden Pelz gehüllt, einen Shwal mehrmals um den Hals geſchlungen, eine eng¬ liſche Stoffmütze weit in die Stirn gedrückt, ſchnüffelte er in allen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/107
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. [95]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/107>, abgerufen am 22.12.2024.