Als die drei nächsten Aufgaben, welche das Studium der psy- chischen Medicamentwirkungen zu lösen hat, erschienen mir beim Ab- schlusse meiner ersten Versuche die Ausdehnung der Experimente auf weitere Arzneistoffe, die Untersuchung mannigfaltigerer und ver- wickelterer psychischer Vorgänge und endlich die Berücksichtigung individueller Differenzen. Nach allen diesen Richtungen hin habe ich, soweit es meine Kräfte und äussere Umstände gestatteten, das For- schungsgebiet zu erweitern gesucht. Diejenigen Schlüsse, welche der Vergleich verschiedener Stoffe und ihrer Wirkungen auf verschieden- artige Functionen unserer Seele gestattet, sind im Vorstehenden aus- führlich besprochen worden. Somit bliebe nur noch übrig, zu unter- suchen, wieweit in dem Verhalten der einzelnen Versuchspersonen be- merkenswerthe Differenzen hervorgetreten sind. Es liegt indessen auf der Hand, dass es hier nicht angeht, die Verschiedenheit der Arznei- wirkungen allein in's Auge zu fassen. Vielmehr gewinnt diese Gruppe von individuellen Abweichungen erst dann die richtige Beleuchtung, wenn sie einigermassen in Beziehung gesetzt werden kann zu den übrigen Eigenthümlichkeiten der einzelnen Personen. Ein tieferes Ver- ständniss der individuellen Reactionsweise kann nur aus einer genauen Kenntniss der Gesammtpersönlichkeit gewonnen werden.
Leider fehlen mir für eine derartige Vertiefung der Frage nahezu alle Vorbedingungen. Die Methoden für die exacte und allseitige psychophysische Untersuchung eines Individuums befinden sich noch in vollständig embryonalem Zustande und sind überdies so zeitraubend, dass die praktische Verwendung der vorhandenen spärlichen Ansätze einstweilen nur ausnahmsweise möglich erscheint. Zudem wissen wir überhaupt noch gar nicht, auf welche Punkte wir bei der psychischen Charakterisirung einer Persönlichkeit vor Allem unser Augenmerk zu
VI. Individuelle Verschiedenheiten.
Als die drei nächsten Aufgaben, welche das Studium der psy- chischen Medicamentwirkungen zu lösen hat, erschienen mir beim Ab- schlusse meiner ersten Versuche die Ausdehnung der Experimente auf weitere Arzneistoffe, die Untersuchung mannigfaltigerer und ver- wickelterer psychischer Vorgänge und endlich die Berücksichtigung individueller Differenzen. Nach allen diesen Richtungen hin habe ich, soweit es meine Kräfte und äussere Umstände gestatteten, das For- schungsgebiet zu erweitern gesucht. Diejenigen Schlüsse, welche der Vergleich verschiedener Stoffe und ihrer Wirkungen auf verschieden- artige Functionen unserer Seele gestattet, sind im Vorstehenden aus- führlich besprochen worden. Somit bliebe nur noch übrig, zu unter- suchen, wieweit in dem Verhalten der einzelnen Versuchspersonen be- merkenswerthe Differenzen hervorgetreten sind. Es liegt indessen auf der Hand, dass es hier nicht angeht, die Verschiedenheit der Arznei- wirkungen allein in’s Auge zu fassen. Vielmehr gewinnt diese Gruppe von individuellen Abweichungen erst dann die richtige Beleuchtung, wenn sie einigermassen in Beziehung gesetzt werden kann zu den übrigen Eigenthümlichkeiten der einzelnen Personen. Ein tieferes Ver- ständniss der individuellen Reactionsweise kann nur aus einer genauen Kenntniss der Gesammtpersönlichkeit gewonnen werden.
Leider fehlen mir für eine derartige Vertiefung der Frage nahezu alle Vorbedingungen. Die Methoden für die exacte und allseitige psychophysische Untersuchung eines Individuums befinden sich noch in vollständig embryonalem Zustande und sind überdies so zeitraubend, dass die praktische Verwendung der vorhandenen spärlichen Ansätze einstweilen nur ausnahmsweise möglich erscheint. Zudem wissen wir überhaupt noch gar nicht, auf welche Punkte wir bei der psychischen Charakterisirung einer Persönlichkeit vor Allem unser Augenmerk zu
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VI. Individuelle Verschiedenheiten.
Als die drei nächsten Aufgaben, welche das Studium der psy-
chischen Medicamentwirkungen zu lösen hat, erschienen mir beim Ab-
schlusse meiner ersten Versuche die Ausdehnung der Experimente auf
weitere Arzneistoffe, die Untersuchung mannigfaltigerer und ver-
wickelterer psychischer Vorgänge und endlich die Berücksichtigung
individueller Differenzen. Nach allen diesen Richtungen hin habe ich,
soweit es meine Kräfte und äussere Umstände gestatteten, das For-
schungsgebiet zu erweitern gesucht. Diejenigen Schlüsse, welche der
Vergleich verschiedener Stoffe und ihrer Wirkungen auf verschieden-
artige Functionen unserer Seele gestattet, sind im Vorstehenden aus-
führlich besprochen worden. Somit bliebe nur noch übrig, zu unter-
suchen, wieweit in dem Verhalten der einzelnen Versuchspersonen be-
merkenswerthe Differenzen hervorgetreten sind. Es liegt indessen auf
der Hand, dass es hier nicht angeht, die Verschiedenheit der Arznei-
wirkungen allein in’s Auge zu fassen. Vielmehr gewinnt diese Gruppe
von individuellen Abweichungen erst dann die richtige Beleuchtung,
wenn sie einigermassen in Beziehung gesetzt werden kann zu den
übrigen Eigenthümlichkeiten der einzelnen Personen. Ein tieferes Ver-
ständniss der individuellen Reactionsweise kann nur aus einer genauen
Kenntniss der Gesammtpersönlichkeit gewonnen werden.
Leider fehlen mir für eine derartige Vertiefung der Frage nahezu
alle Vorbedingungen. Die Methoden für die exacte und allseitige
psychophysische Untersuchung eines Individuums befinden sich noch
in vollständig embryonalem Zustande und sind überdies so zeitraubend,
dass die praktische Verwendung der vorhandenen spärlichen Ansätze
einstweilen nur ausnahmsweise möglich erscheint. Zudem wissen wir
überhaupt noch gar nicht, auf welche Punkte wir bei der psychischen
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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. [232]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/248>, abgerufen am 22.02.2025.
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