Ueberall, wo wir den Versuch machen, für die Gesetze des psychischen Geschehens auf experimentellem Wege zahlenmässige Aus- drücke zu gewinnen, stossen wir auf eine und dieselbe wesentliche Schwie- rigkeit, welche keinem anderen Gebiete unserer Forschung in gleichem Masse eigenthümlich ist, die ausserordentliche Veränderlich- keit des untersuchten Objectes. Die Beweiskraft jedes Experi- mentes beruht bekanntlich auf der Eindeutigkeit desselben, auf der Sicher- heit, mit welcher die eintretenden Veränderungen gerade auf die eine vom Untersucher variirte Versuchsbedingung zurückgeführt werden dürfen. Die Voraussetzung ist demnach immer, dass alle anderen wirksamen Einflüsse während des Experimentes nahezu constant geblieben sind. Von einer solchen Stabilität ist indessen im Bereiche unseres Seelenlebens, soweit dasselbe überhaupt dem Versuche zugänglich erscheint, niemals die Rede; vielmehr begegnen wir hier dem gleichen ununterbrochenen Spiele verschiedenartiger und häufig entgegengesetzter Vorgänge, wie es die Physiologie in den organischen Substraten unserer psychischen Leistungen, im Stoffwechsel unseres Nervengewebes, anzunehmen sich veranlasst gesehen hat. Es ist allerdings wahr, dass sich auch im Bereiche anderer Wissenschaften schon bei der anscheinend einfachsten Messung, sobald ihre Genauigkeit über den populären Grad hinaus- gehen soll, sehr bald eine wachsende Zahl von Fehlerquellen der ver- schiedensten Art herauszustellen pflegt. Allein hier ist doch in der Regel wenigstens für kurze Zeit ein gewisses Gleichgewicht der auf das Untersuchungsobject einwirkenden Kräfte erreichbar. Auf dem Gebiete der psychischen Vorgänge vermögen wir diese Bedingung so gut wie niemals zu erfüllen. In dem leicht beweglichen Elemente unseres inneren Lebens schwanken die veränderlichen Gebilde unseres
Kraepelin, Beeinflussung. 1
I. Methodik.
a. Allgemeine Gesichtspunkte.
Ueberall, wo wir den Versuch machen, für die Gesetze des psychischen Geschehens auf experimentellem Wege zahlenmässige Aus- drücke zu gewinnen, stossen wir auf eine und dieselbe wesentliche Schwie- rigkeit, welche keinem anderen Gebiete unserer Forschung in gleichem Masse eigenthümlich ist, die ausserordentliche Veränderlich- keit des untersuchten Objectes. Die Beweiskraft jedes Experi- mentes beruht bekanntlich auf der Eindeutigkeit desselben, auf der Sicher- heit, mit welcher die eintretenden Veränderungen gerade auf die eine vom Untersucher variirte Versuchsbedingung zurückgeführt werden dürfen. Die Voraussetzung ist demnach immer, dass alle anderen wirksamen Einflüsse während des Experimentes nahezu constant geblieben sind. Von einer solchen Stabilität ist indessen im Bereiche unseres Seelenlebens, soweit dasselbe überhaupt dem Versuche zugänglich erscheint, niemals die Rede; vielmehr begegnen wir hier dem gleichen ununterbrochenen Spiele verschiedenartiger und häufig entgegengesetzter Vorgänge, wie es die Physiologie in den organischen Substraten unserer psychischen Leistungen, im Stoffwechsel unseres Nervengewebes, anzunehmen sich veranlasst gesehen hat. Es ist allerdings wahr, dass sich auch im Bereiche anderer Wissenschaften schon bei der anscheinend einfachsten Messung, sobald ihre Genauigkeit über den populären Grad hinaus- gehen soll, sehr bald eine wachsende Zahl von Fehlerquellen der ver- schiedensten Art herauszustellen pflegt. Allein hier ist doch in der Regel wenigstens für kurze Zeit ein gewisses Gleichgewicht der auf das Untersuchungsobject einwirkenden Kräfte erreichbar. Auf dem Gebiete der psychischen Vorgänge vermögen wir diese Bedingung so gut wie niemals zu erfüllen. In dem leicht beweglichen Elemente unseres inneren Lebens schwanken die veränderlichen Gebilde unseres
Kraepelin, Beeinflussung. 1
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I. Methodik.
a. Allgemeine Gesichtspunkte.
Ueberall, wo wir den Versuch machen, für die Gesetze des
psychischen Geschehens auf experimentellem Wege zahlenmässige Aus-
drücke zu gewinnen, stossen wir auf eine und dieselbe wesentliche Schwie-
rigkeit, welche keinem anderen Gebiete unserer Forschung in gleichem
Masse eigenthümlich ist, die ausserordentliche Veränderlich-
keit des untersuchten Objectes. Die Beweiskraft jedes Experi-
mentes beruht bekanntlich auf der Eindeutigkeit desselben, auf der Sicher-
heit, mit welcher die eintretenden Veränderungen gerade auf die eine vom
Untersucher variirte Versuchsbedingung zurückgeführt werden dürfen.
Die Voraussetzung ist demnach immer, dass alle anderen wirksamen
Einflüsse während des Experimentes nahezu constant geblieben sind.
Von einer solchen Stabilität ist indessen im Bereiche unseres Seelenlebens,
soweit dasselbe überhaupt dem Versuche zugänglich erscheint, niemals
die Rede; vielmehr begegnen wir hier dem gleichen ununterbrochenen
Spiele verschiedenartiger und häufig entgegengesetzter Vorgänge, wie
es die Physiologie in den organischen Substraten unserer psychischen
Leistungen, im Stoffwechsel unseres Nervengewebes, anzunehmen sich
veranlasst gesehen hat. Es ist allerdings wahr, dass sich auch im
Bereiche anderer Wissenschaften schon bei der anscheinend einfachsten
Messung, sobald ihre Genauigkeit über den populären Grad hinaus-
gehen soll, sehr bald eine wachsende Zahl von Fehlerquellen der ver-
schiedensten Art herauszustellen pflegt. Allein hier ist doch in der
Regel wenigstens für kurze Zeit ein gewisses Gleichgewicht der auf
das Untersuchungsobject einwirkenden Kräfte erreichbar. Auf dem
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gut wie niemals zu erfüllen. In dem leicht beweglichen Elemente
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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/17>, abgerufen am 22.02.2025.
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