Margaretha B. von N. eilf Jahre alt, Tochter einer armen Wittwe, von etwas heftiger Gemüthsart, aber ein christliches, frommes Kind, wurde den 19. Januar 1829, ohne vorher unwohl gewesen zu seyn, von krampfhaften Zufällen ergriffen, die sich mit wenigen und kurzen Unterbre- chungen zwey Tage lang wiederholten. So lange die Krampf- anfälle dauerten, war das Mädchen nicht beym Bewußtseyn, sie verdrehte die Augen, machte Grimassen und allerlei sonderbare Bewegungen mit den Armen, und von Montag den 21. Januar an ließ sich auch wiederholt eine tiefe Baßstimme vernehmen, mit den Worten "Für dich betet man recht!" Sobald das Mädchen wieder zu sich selber kam, war sie müde und erschöpft, wußte aber von allem Vorgefallenen nichts und sagte nur, sie habe geträumt.
Am 22. Januar Abends fing eine andre, von der obigen Baßstimme sich deutlich unterscheidende Stimme an, sich hören zu lassen. Diese Stimme redete fast unaufhörlich so lange die Krisis dauerte, d. h. eine halbe, ganze, auch mehrere Stunden, und wurde nur zuweilen von jener Baß- stimme, die ihr voriges Recitativ standhaft wiederholte, unterbrochen. Augenscheinlich wollte diese Stimme eine von der Persönlichkeit des Mädchens verschiedene Persönlichkeit darstellen, und unterschied sich auch von demselben aufs ge- naueste, sich dasselbe objectivirend, und in der dritten Per- son von ihr redend. In den Außerungen dieser Stimme war durchaus nicht die mindeste Verwirrtheit oder Verrücktheit zu bemerken, sondern ganz strenge Consequenz, die alle Fragen folgerecht beantwortete, oder mit Schalkheit von sich wieß. Was aber diesen Aeußerungen ihr Unterscheidendes gab,
Geschichte einer Besessenen vom Jahr 1829.
Margaretha B. von N. eilf Jahre alt, Tochter einer armen Wittwe, von etwas heftiger Gemüthsart, aber ein chriſtliches, frommes Kind, wurde den 19. Januar 1829, ohne vorher unwohl geweſen zu ſeyn, von krampfhaften Zufällen ergriffen, die ſich mit wenigen und kurzen Unterbre- chungen zwey Tage lang wiederholten. So lange die Krampf- anfälle dauerten, war das Mädchen nicht beym Bewußtſeyn, ſie verdrehte die Augen, machte Grimaſſen und allerlei ſonderbare Bewegungen mit den Armen, und von Montag den 21. Januar an ließ ſich auch wiederholt eine tiefe Baßſtimme vernehmen, mit den Worten „Für dich betet man recht!“ Sobald das Mädchen wieder zu ſich ſelber kam, war ſie müde und erſchöpft, wußte aber von allem Vorgefallenen nichts und ſagte nur, ſie habe geträumt.
Am 22. Januar Abends fing eine andre, von der obigen Baßſtimme ſich deutlich unterſcheidende Stimme an, ſich hören zu laſſen. Dieſe Stimme redete faſt unaufhörlich ſo lange die Kriſis dauerte, d. h. eine halbe, ganze, auch mehrere Stunden, und wurde nur zuweilen von jener Baß- ſtimme, die ihr voriges Recitativ ſtandhaft wiederholte, unterbrochen. Augenſcheinlich wollte dieſe Stimme eine von der Perſönlichkeit des Mädchens verſchiedene Perſönlichkeit darſtellen, und unterſchied ſich auch von demſelben aufs ge- naueſte, ſich daſſelbe objectivirend, und in der dritten Per- ſon von ihr redend. In den Außerungen dieſer Stimme war durchaus nicht die mindeſte Verwirrtheit oder Verrücktheit zu bemerken, ſondern ganz ſtrenge Conſequenz, die alle Fragen folgerecht beantwortete, oder mit Schalkheit von ſich wieß. Was aber dieſen Aeußerungen ihr Unterſcheidendes gab,
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Geschichte einer Besessenen
vom Jahr 1829.
Margaretha B. von N. eilf Jahre alt, Tochter einer
armen Wittwe, von etwas heftiger Gemüthsart, aber ein
chriſtliches, frommes Kind, wurde den 19. Januar 1829,
ohne vorher unwohl geweſen zu ſeyn, von krampfhaften
Zufällen ergriffen, die ſich mit wenigen und kurzen Unterbre-
chungen zwey Tage lang wiederholten. So lange die Krampf-
anfälle dauerten, war das Mädchen nicht beym Bewußtſeyn,
ſie verdrehte die Augen, machte Grimaſſen und allerlei
ſonderbare Bewegungen mit den Armen, und von Montag
den 21. Januar an ließ ſich auch wiederholt eine tiefe
Baßſtimme vernehmen, mit den Worten „Für dich betet
man recht!“ Sobald das Mädchen wieder zu ſich ſelber
kam, war ſie müde und erſchöpft, wußte aber von allem
Vorgefallenen nichts und ſagte nur, ſie habe geträumt.
Am 22. Januar Abends fing eine andre, von der obigen
Baßſtimme ſich deutlich unterſcheidende Stimme an, ſich
hören zu laſſen. Dieſe Stimme redete faſt unaufhörlich ſo
lange die Kriſis dauerte, d. h. eine halbe, ganze, auch
mehrere Stunden, und wurde nur zuweilen von jener Baß-
ſtimme, die ihr voriges Recitativ ſtandhaft wiederholte,
unterbrochen. Augenſcheinlich wollte dieſe Stimme eine von
der Perſönlichkeit des Mädchens verſchiedene Perſönlichkeit
darſtellen, und unterſchied ſich auch von demſelben aufs ge-
naueſte, ſich daſſelbe objectivirend, und in der dritten Per-
ſon von ihr redend. In den Außerungen dieſer Stimme
war durchaus nicht die mindeſte Verwirrtheit oder Verrücktheit
zu bemerken, ſondern ganz ſtrenge Conſequenz, die alle Fragen
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Was aber dieſen Aeußerungen ihr Unterſcheidendes gab,
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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/115>, abgerufen am 23.02.2025.
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