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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Zweites Capitel.
Worin es zur einen Hälfte gelingt.

Als Reinhart eine Weile in den thauigen Morgen
hineingezogen, wo hier und da Sensen blinkten und frische
Heuerinnen die Mahden auf den Wiesen ausbreiteten, kam
er an eine lange und breite, sehr schöne Brücke, welche
der Frühe wegen noch still und unbegangen war, und wie
ein leerer Saal in der Sonne lag. Am Eingange stand
ein Zollhäuschen von zierlichem Holzwerk, von blühenden
Winden bedeckt, und neben dem Häuschen klang ein klarer
Brunnen, an welchem die Zöllnerstochter eben das Gesicht
gewaschen hatte und sich die Haare kämmte. Als sie zu
dem Reiter herantrat, um den Brückenzoll zu fordern, sah
er, daß es ein schönes blasses Mädchen war, schlank von
Wuchs, mit einem feinen, lustigen Gesicht und kecken
Augen. Das offene braune Haar bedeckte die Schultern
und den Rücken, und war wie das Gesicht und die Hände
feucht von dem frischen Quellwasser.

"Wahrhaftig mein Kind!" sagte Reinhart. "Ihr seid
die schönste Zöllnerin, die ich je gesehen, und ich gebe

Zweites Capitel.
Worin es zur einen Hälfte gelingt.

Als Reinhart eine Weile in den thauigen Morgen
hineingezogen, wo hier und da Senſen blinkten und friſche
Heuerinnen die Mahden auf den Wieſen ausbreiteten, kam
er an eine lange und breite, ſehr ſchöne Brücke, welche
der Frühe wegen noch ſtill und unbegangen war, und wie
ein leerer Saal in der Sonne lag. Am Eingange ſtand
ein Zollhäuschen von zierlichem Holzwerk, von blühenden
Winden bedeckt, und neben dem Häuschen klang ein klarer
Brunnen, an welchem die Zöllnerſtochter eben das Geſicht
gewaſchen hatte und ſich die Haare kämmte. Als ſie zu
dem Reiter herantrat, um den Brückenzoll zu fordern, ſah
er, daß es ein ſchönes blaſſes Mädchen war, ſchlank von
Wuchs, mit einem feinen, luſtigen Geſicht und kecken
Augen. Das offene braune Haar bedeckte die Schultern
und den Rücken, und war wie das Geſicht und die Hände
feucht von dem friſchen Quellwaſſer.

„Wahrhaftig mein Kind!“ ſagte Reinhart. „Ihr ſeid
die ſchönſte Zöllnerin, die ich je geſehen, und ich gebe

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[[10]/0020] Zweites Capitel. Worin es zur einen Hälfte gelingt. Als Reinhart eine Weile in den thauigen Morgen hineingezogen, wo hier und da Senſen blinkten und friſche Heuerinnen die Mahden auf den Wieſen ausbreiteten, kam er an eine lange und breite, ſehr ſchöne Brücke, welche der Frühe wegen noch ſtill und unbegangen war, und wie ein leerer Saal in der Sonne lag. Am Eingange ſtand ein Zollhäuschen von zierlichem Holzwerk, von blühenden Winden bedeckt, und neben dem Häuschen klang ein klarer Brunnen, an welchem die Zöllnerſtochter eben das Geſicht gewaſchen hatte und ſich die Haare kämmte. Als ſie zu dem Reiter herantrat, um den Brückenzoll zu fordern, ſah er, daß es ein ſchönes blaſſes Mädchen war, ſchlank von Wuchs, mit einem feinen, luſtigen Geſicht und kecken Augen. Das offene braune Haar bedeckte die Schultern und den Rücken, und war wie das Geſicht und die Hände feucht von dem friſchen Quellwaſſer. „Wahrhaftig mein Kind!“ ſagte Reinhart. „Ihr ſeid die ſchönſte Zöllnerin, die ich je geſehen, und ich gebe

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. [10]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/20>, abgerufen am 21.11.2024.