Erstes Capitel. Ein Naturforscher entdeckt ein Verfahren und reitet über Land, dasselbe zu prüfen.
Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, als die Natur¬ wissenschaften eben wieder auf einem höchsten Gipfel standen, obgleich das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl noch nicht bekannt war, öffnete Herr Reinhart eines Tages seine Fensterläden und ließ den Morgenglanz, der hinter den Bergen hervorkam, in sein Arbeitsgemach, und mit dem Frühgolde wehte eine frische Sommermorgenluft da¬ her und bewegte kräftig die schweren Vorhänge und die schattigen Haare des Mannes.
Der junge Tagesschein erleuchtete die Studierstube eines Doctor Fausten, aber durchaus ins Moderne, Be¬ queme und Zierliche übersetzt. Statt der malerischen Esse, der ungeheuerlichen Kolben und Kessel, gab es da nur feine Spirituslampen und leichte Glasröhren, Porzellan¬ schalen und Fläschchen mit geschliffenem Verschlusse, ange¬ füllt mit Trockenem und Flüssigem aller Art, mit Säuren, Salzen und Kristallen. Die Tische waren bedeckt mit
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Erstes Capitel. Ein Naturforſcher entdeckt ein Verfahren und reitet über Land, dasſelbe zu prüfen.
Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, als die Natur¬ wiſſenſchaften eben wieder auf einem höchſten Gipfel ſtanden, obgleich das Geſetz der natürlichen Zuchtwahl noch nicht bekannt war, öffnete Herr Reinhart eines Tages ſeine Fenſterläden und ließ den Morgenglanz, der hinter den Bergen hervorkam, in ſein Arbeitsgemach, und mit dem Frühgolde wehte eine friſche Sommermorgenluft da¬ her und bewegte kräftig die ſchweren Vorhänge und die ſchattigen Haare des Mannes.
Der junge Tagesſchein erleuchtete die Studierſtube eines Doctor Fauſten, aber durchaus ins Moderne, Be¬ queme und Zierliche überſetzt. Statt der maleriſchen Eſſe, der ungeheuerlichen Kolben und Keſſel, gab es da nur feine Spirituslampen und leichte Glasröhren, Porzellan¬ ſchalen und Fläſchchen mit geſchliffenem Verſchluſſe, ange¬ füllt mit Trockenem und Flüſſigem aller Art, mit Säuren, Salzen und Kriſtallen. Die Tiſche waren bedeckt mit
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Erstes Capitel.
Ein Naturforſcher entdeckt ein Verfahren und reitet
über Land, dasſelbe zu prüfen.
Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, als die Natur¬
wiſſenſchaften eben wieder auf einem höchſten Gipfel
ſtanden, obgleich das Geſetz der natürlichen Zuchtwahl
noch nicht bekannt war, öffnete Herr Reinhart eines Tages
ſeine Fenſterläden und ließ den Morgenglanz, der hinter
den Bergen hervorkam, in ſein Arbeitsgemach, und mit
dem Frühgolde wehte eine friſche Sommermorgenluft da¬
her und bewegte kräftig die ſchweren Vorhänge und die
ſchattigen Haare des Mannes.
Der junge Tagesſchein erleuchtete die Studierſtube
eines Doctor Fauſten, aber durchaus ins Moderne, Be¬
queme und Zierliche überſetzt. Statt der maleriſchen Eſſe,
der ungeheuerlichen Kolben und Keſſel, gab es da nur
feine Spirituslampen und leichte Glasröhren, Porzellan¬
ſchalen und Fläſchchen mit geſchliffenem Verſchluſſe, ange¬
füllt mit Trockenem und Flüſſigem aller Art, mit Säuren,
Salzen und Kriſtallen. Die Tiſche waren bedeckt mit
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/13>, abgerufen am 21.11.2024.
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