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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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"So geh' denn und überlaß mich den Musen!"
sagte der gute Alte.

Als der Abend kam, folgte die Nacht nicht so
schnell der Dämmerung, als Vitalis hinter Jole her
im bekannten Häuschen erschien. Aber so war er
noch nie hier eingetreten. Das Herz klopfte ihm und
er mußte empfinden, was es heiße, ein Wesen wie¬
der zu sehen, das einen solchen Trumpf ausgespielt
hat. Ein anderer Vitalis stieg die Treppe hinauf,
als in der Frühe heruntergestiegen war, obschon er
selbst am wenigsten davon verstand, da der arme
Mädchenbekehrer und verrufene Mönch nicht einmal
den Unterschied zwischen dem Lächeln einer Buhl¬
dirne und demjenigen einer ehrlichen Frau ge¬
kannt hatte.

Doch kam er immerhin in der guten Meinung
und mit dem alten Vorsatze, dem Ungeheuerchen jetzt
endlich alle unnützen Gedanken aus dem Köpfchen
zu treiben; nur schwebte ihm vor, als ob er nach
gelungenem Werke dann doch etwa eine Pause in
seiner Märtyrthätigkeit sich erlauben möchte, zumal
ihn diese sehr zu ermüden begann.

Aber es war ihm beschieden, daß in dieser ver¬
hexten Behausung stets neue Ueberraschungen seiner
warteten. Als er jetzt das Gemach betrat, war es
auf's Anmuthigste ausgeziert und mit allen Wohn¬

Keller, Sieben Legenden. 8

„So geh' denn und überlaß mich den Muſen!“
ſagte der gute Alte.

Als der Abend kam, folgte die Nacht nicht ſo
ſchnell der Dämmerung, als Vitalis hinter Jole her
im bekannten Häuschen erſchien. Aber ſo war er
noch nie hier eingetreten. Das Herz klopfte ihm und
er mußte empfinden, was es heiße, ein Weſen wie¬
der zu ſehen, das einen ſolchen Trumpf ausgeſpielt
hat. Ein anderer Vitalis ſtieg die Treppe hinauf,
als in der Frühe heruntergeſtiegen war, obſchon er
ſelbſt am wenigſten davon verſtand, da der arme
Mädchenbekehrer und verrufene Mönch nicht einmal
den Unterſchied zwiſchen dem Lächeln einer Buhl¬
dirne und demjenigen einer ehrlichen Frau ge¬
kannt hatte.

Doch kam er immerhin in der guten Meinung
und mit dem alten Vorſatze, dem Ungeheuerchen jetzt
endlich alle unnützen Gedanken aus dem Köpfchen
zu treiben; nur ſchwebte ihm vor, als ob er nach
gelungenem Werke dann doch etwa eine Pauſe in
ſeiner Märtyrthätigkeit ſich erlauben möchte, zumal
ihn dieſe ſehr zu ermüden begann.

Aber es war ihm beſchieden, daß in dieſer ver¬
hexten Behauſung ſtets neue Ueberraſchungen ſeiner
warteten. Als er jetzt das Gemach betrat, war es
auf's Anmuthigſte ausgeziert und mit allen Wohn¬

Keller, Sieben Legenden. 8
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[113/0127] „So geh' denn und überlaß mich den Muſen!“ ſagte der gute Alte. Als der Abend kam, folgte die Nacht nicht ſo ſchnell der Dämmerung, als Vitalis hinter Jole her im bekannten Häuschen erſchien. Aber ſo war er noch nie hier eingetreten. Das Herz klopfte ihm und er mußte empfinden, was es heiße, ein Weſen wie¬ der zu ſehen, das einen ſolchen Trumpf ausgeſpielt hat. Ein anderer Vitalis ſtieg die Treppe hinauf, als in der Frühe heruntergeſtiegen war, obſchon er ſelbſt am wenigſten davon verſtand, da der arme Mädchenbekehrer und verrufene Mönch nicht einmal den Unterſchied zwiſchen dem Lächeln einer Buhl¬ dirne und demjenigen einer ehrlichen Frau ge¬ kannt hatte. Doch kam er immerhin in der guten Meinung und mit dem alten Vorſatze, dem Ungeheuerchen jetzt endlich alle unnützen Gedanken aus dem Köpfchen zu treiben; nur ſchwebte ihm vor, als ob er nach gelungenem Werke dann doch etwa eine Pauſe in ſeiner Märtyrthätigkeit ſich erlauben möchte, zumal ihn dieſe ſehr zu ermüden begann. Aber es war ihm beſchieden, daß in dieſer ver¬ hexten Behauſung ſtets neue Ueberraſchungen ſeiner warteten. Als er jetzt das Gemach betrat, war es auf's Anmuthigſte ausgeziert und mit allen Wohn¬ Keller, Sieben Legenden. 8

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/127>, abgerufen am 26.04.2024.