Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

was er nur glaubt oder behauptet, aber nicht
weiß, giebt mit jedem Gewaltstreiche sich selbst
eine Ohrfeige, und dieser geheime Uebelstand ver¬
leiht solchem Streite den schmerzlichen, bitterlichen
und fanatischen Charakter, den Religionskriegen
das vertracte hypochondrische Ansehen.

Ketzer braten ist ein durchaus hypochondrisches,
trübsinniges Vergnügen, ein selbstquälerisches und
wehmüthiges Geschäft und gar nicht so lustig,
wie es den Anschein hat.

Heinrich faßte indessen alles Wissen, das er
erwarb, sogleich in ausdrucksvolle poetische Vor¬
stellungen, wie sie aus dem Wesen des Gegen¬
standes hervorgingen und mit demselben Eines
waren, so daß, wenn er damit hantirte, er die
allerschönsten Symbole besaß, die in Wirklichkeit
und ohne Auslegerei die Sache selbst waren und
nicht etwa darüber schwammen, wie die Fettau¬
gen über einer Wassersuppe. So waren ihm die
beiden Systeme des Blutkreislaufes und der Ner¬
ven mit dem Gehirne, jedes in sich geschlossen
und in sich zurückkehrend, wie die runde Welt,
und doch jedes das andere bedingend, die schön¬

was er nur glaubt oder behauptet, aber nicht
weiß, giebt mit jedem Gewaltſtreiche ſich ſelbſt
eine Ohrfeige, und dieſer geheime Uebelſtand ver¬
leiht ſolchem Streite den ſchmerzlichen, bitterlichen
und fanatiſchen Charakter, den Religionskriegen
das vertracte hypochondriſche Anſehen.

Ketzer braten iſt ein durchaus hypochondriſches,
truͤbſinniges Vergnuͤgen, ein ſelbſtquaͤleriſches und
wehmuͤthiges Geſchaͤft und gar nicht ſo luſtig,
wie es den Anſchein hat.

Heinrich faßte indeſſen alles Wiſſen, das er
erwarb, ſogleich in ausdrucksvolle poetiſche Vor¬
ſtellungen, wie ſie aus dem Weſen des Gegen¬
ſtandes hervorgingen und mit demſelben Eines
waren, ſo daß, wenn er damit hantirte, er die
allerſchoͤnſten Symbole beſaß, die in Wirklichkeit
und ohne Auslegerei die Sache ſelbſt waren und
nicht etwa daruͤber ſchwammen, wie die Fettau¬
gen uͤber einer Waſſerſuppe. So waren ihm die
beiden Syſteme des Blutkreislaufes und der Ner¬
ven mit dem Gehirne, jedes in ſich geſchloſſen
und in ſich zuruͤckkehrend, wie die runde Welt,
und doch jedes das andere bedingend, die ſchoͤn¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0072" n="62"/>
was er nur glaubt oder behauptet, aber nicht<lb/>
weiß, giebt mit jedem Gewalt&#x017F;treiche &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
eine Ohrfeige, und die&#x017F;er geheime Uebel&#x017F;tand ver¬<lb/>
leiht &#x017F;olchem Streite den &#x017F;chmerzlichen, bitterlichen<lb/>
und fanati&#x017F;chen Charakter, den Religionskriegen<lb/>
das vertracte hypochondri&#x017F;che An&#x017F;ehen.</p><lb/>
        <p>Ketzer braten i&#x017F;t ein durchaus hypochondri&#x017F;ches,<lb/>
tru&#x0364;b&#x017F;inniges Vergnu&#x0364;gen, ein &#x017F;elb&#x017F;tqua&#x0364;leri&#x017F;ches und<lb/>
wehmu&#x0364;thiges Ge&#x017F;cha&#x0364;ft und gar nicht &#x017F;o lu&#x017F;tig,<lb/>
wie es den An&#x017F;chein hat.</p><lb/>
        <p>Heinrich faßte inde&#x017F;&#x017F;en alles Wi&#x017F;&#x017F;en, das er<lb/>
erwarb, &#x017F;ogleich in ausdrucksvolle poeti&#x017F;che Vor¬<lb/>
&#x017F;tellungen, wie &#x017F;ie aus dem We&#x017F;en des Gegen¬<lb/>
&#x017F;tandes hervorgingen und mit dem&#x017F;elben Eines<lb/>
waren, &#x017F;o daß, wenn er damit hantirte, er die<lb/>
aller&#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Symbole be&#x017F;aß, die in Wirklichkeit<lb/>
und ohne Auslegerei die Sache &#x017F;elb&#x017F;t waren und<lb/>
nicht etwa daru&#x0364;ber &#x017F;chwammen, wie die Fettau¬<lb/>
gen u&#x0364;ber einer Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;uppe. So waren ihm die<lb/>
beiden Sy&#x017F;teme des Blutkreislaufes und der Ner¬<lb/>
ven mit dem Gehirne, jedes in &#x017F;ich ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und in &#x017F;ich zuru&#x0364;ckkehrend, wie die runde Welt,<lb/>
und doch jedes das andere bedingend, die &#x017F;cho&#x0364;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0072] was er nur glaubt oder behauptet, aber nicht weiß, giebt mit jedem Gewaltſtreiche ſich ſelbſt eine Ohrfeige, und dieſer geheime Uebelſtand ver¬ leiht ſolchem Streite den ſchmerzlichen, bitterlichen und fanatiſchen Charakter, den Religionskriegen das vertracte hypochondriſche Anſehen. Ketzer braten iſt ein durchaus hypochondriſches, truͤbſinniges Vergnuͤgen, ein ſelbſtquaͤleriſches und wehmuͤthiges Geſchaͤft und gar nicht ſo luſtig, wie es den Anſchein hat. Heinrich faßte indeſſen alles Wiſſen, das er erwarb, ſogleich in ausdrucksvolle poetiſche Vor¬ ſtellungen, wie ſie aus dem Weſen des Gegen¬ ſtandes hervorgingen und mit demſelben Eines waren, ſo daß, wenn er damit hantirte, er die allerſchoͤnſten Symbole beſaß, die in Wirklichkeit und ohne Auslegerei die Sache ſelbſt waren und nicht etwa daruͤber ſchwammen, wie die Fettau¬ gen uͤber einer Waſſerſuppe. So waren ihm die beiden Syſteme des Blutkreislaufes und der Ner¬ ven mit dem Gehirne, jedes in ſich geſchloſſen und in ſich zuruͤckkehrend, wie die runde Welt, und doch jedes das andere bedingend, die ſchoͤn¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/72
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/72>, abgerufen am 26.04.2024.