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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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mein Wesen in zwei verschiedene Theile ausein¬
ander fiele, daß neben dieser mich ein anderes
Weib auch nur rühren könnte? Nein! Diese ist
die Welt, alle Weiber stecken in ihr beisammen,
ausgenommen die häßlichen und schlechten!

"Wenn diese schwer erkranken oder gar ster¬
ben sollte, würde ich alsdann im Stande sein,
dem traurigen Ereigniß so künstlerisch zuzusehen
und es zu beschreiben? O nein, ich fühle es! Es
würde mich brechen wie einen Halm und die
Welt würde sich mir verfinstern, selbst wenn ich
bestimmt wüßte, daß sie mich gar nicht leiden
mag! Und dennoch, welch' ein praktischer Kerl
bin ich gewesen, als ich so theoretisch, so ganz
nach dem Schema liebte und ein grünes Bürsch¬
chen war! Wie unverschämt hab' ich da geküßt,
die Kleine und die Große, zum Morgen- und
Abendbrot! Und jetzt, da ich so manches Jahr
älter bin und diese schöne und gute Person liebe,
wird es mir schon katzangst, wenn ich nur daran
denke, sie in unbestimmter Zeit irgendeinmal küs¬
sen zu dürfen, o weh und doch möchte ich lieber
den Kopf in das Grab stecken, wenn dieses mir

mein Weſen in zwei verſchiedene Theile ausein¬
ander fiele, daß neben dieſer mich ein anderes
Weib auch nur ruͤhren koͤnnte? Nein! Dieſe iſt
die Welt, alle Weiber ſtecken in ihr beiſammen,
ausgenommen die haͤßlichen und ſchlechten!

»Wenn dieſe ſchwer erkranken oder gar ſter¬
ben ſollte, wuͤrde ich alsdann im Stande ſein,
dem traurigen Ereigniß ſo kuͤnſtleriſch zuzuſehen
und es zu beſchreiben? O nein, ich fuͤhle es! Es
wuͤrde mich brechen wie einen Halm und die
Welt wuͤrde ſich mir verfinſtern, ſelbſt wenn ich
beſtimmt wuͤßte, daß ſie mich gar nicht leiden
mag! Und dennoch, welch' ein praktiſcher Kerl
bin ich geweſen, als ich ſo theoretiſch, ſo ganz
nach dem Schema liebte und ein gruͤnes Buͤrſch¬
chen war! Wie unverſchaͤmt hab' ich da gekuͤßt,
die Kleine und die Große, zum Morgen- und
Abendbrot! Und jetzt, da ich ſo manches Jahr
aͤlter bin und dieſe ſchoͤne und gute Perſon liebe,
wird es mir ſchon katzangſt, wenn ich nur daran
denke, ſie in unbeſtimmter Zeit irgendeinmal kuͤſ¬
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[406/0416] mein Weſen in zwei verſchiedene Theile ausein¬ ander fiele, daß neben dieſer mich ein anderes Weib auch nur ruͤhren koͤnnte? Nein! Dieſe iſt die Welt, alle Weiber ſtecken in ihr beiſammen, ausgenommen die haͤßlichen und ſchlechten! »Wenn dieſe ſchwer erkranken oder gar ſter¬ ben ſollte, wuͤrde ich alsdann im Stande ſein, dem traurigen Ereigniß ſo kuͤnſtleriſch zuzuſehen und es zu beſchreiben? O nein, ich fuͤhle es! Es wuͤrde mich brechen wie einen Halm und die Welt wuͤrde ſich mir verfinſtern, ſelbſt wenn ich beſtimmt wuͤßte, daß ſie mich gar nicht leiden mag! Und dennoch, welch' ein praktiſcher Kerl bin ich geweſen, als ich ſo theoretiſch, ſo ganz nach dem Schema liebte und ein gruͤnes Buͤrſch¬ chen war! Wie unverſchaͤmt hab' ich da gekuͤßt, die Kleine und die Große, zum Morgen- und Abendbrot! Und jetzt, da ich ſo manches Jahr aͤlter bin und dieſe ſchoͤne und gute Perſon liebe, wird es mir ſchon katzangſt, wenn ich nur daran denke, ſie in unbeſtimmter Zeit irgendeinmal kuͤſ¬ ſen zu duͤrfen, o weh und doch moͤchte ich lieber den Kopf in das Grab ſtecken, wenn dieſes mir

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/416>, abgerufen am 26.04.2024.