Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite
Drittes Kapitel.

Diese Demüthigung traf mich um so stärker,
als ich, in Anna's Träumen und Ahnungen rein
und gut zu erscheinen, den Winter über ein pu¬
ritanisches Wesen angenommen hatte und nicht
nur meine äußerliche Haltung, sondern auch meine
Gedanken sorgfältig überwachte und mich bestrebte
wie ein Glas zu sein, das man jeden Augenblick
durchschauen dürfe. Welche Ziererei und Selbst¬
gefälligkeit dabei thätig war, wurde mir jetzt erst
bei dieser gewaltsamen Störung deutlich, und
meine Selbstanklage wurde noch durch das Ge¬
fühl der Narrheit und Eitelkeit verbittert.

Anna hatte während des Winters streng das
Zimmer hüten gemußt und wurde im Frühling
bettlägerig. Der arme Schulmeister kam in die
Stadt, um meine Mutter abzuholen; er weinte

Drittes Kapitel.

Dieſe Demuͤthigung traf mich um ſo ſtaͤrker,
als ich, in Anna's Traͤumen und Ahnungen rein
und gut zu erſcheinen, den Winter uͤber ein pu¬
ritaniſches Weſen angenommen hatte und nicht
nur meine aͤußerliche Haltung, ſondern auch meine
Gedanken ſorgfaͤltig uͤberwachte und mich beſtrebte
wie ein Glas zu ſein, das man jeden Augenblick
durchſchauen duͤrfe. Welche Ziererei und Selbſt¬
gefaͤlligkeit dabei thaͤtig war, wurde mir jetzt erſt
bei dieſer gewaltſamen Stoͤrung deutlich, und
meine Selbſtanklage wurde noch durch das Ge¬
fuͤhl der Narrheit und Eitelkeit verbittert.

Anna hatte waͤhrend des Winters ſtreng das
Zimmer huͤten gemußt und wurde im Fruͤhling
bettlaͤgerig. Der arme Schulmeiſter kam in die
Stadt, um meine Mutter abzuholen; er weinte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0117"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b #g">Drittes Kapitel.</hi><lb/>
        </head>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Die&#x017F;e Demu&#x0364;thigung traf mich um &#x017F;o &#x017F;ta&#x0364;rker,<lb/>
als ich, in Anna's Tra&#x0364;umen und Ahnungen rein<lb/>
und gut zu er&#x017F;cheinen, den Winter u&#x0364;ber ein pu¬<lb/>
ritani&#x017F;ches We&#x017F;en angenommen hatte und nicht<lb/>
nur meine a&#x0364;ußerliche Haltung, &#x017F;ondern auch meine<lb/>
Gedanken &#x017F;orgfa&#x0364;ltig u&#x0364;berwachte und mich be&#x017F;trebte<lb/>
wie ein Glas zu &#x017F;ein, das man jeden Augenblick<lb/>
durch&#x017F;chauen du&#x0364;rfe. Welche Ziererei und Selb&#x017F;<lb/>
gefa&#x0364;lligkeit dabei tha&#x0364;tig war, wurde mir jetzt er&#x017F;t<lb/>
bei die&#x017F;er gewalt&#x017F;amen Sto&#x0364;rung deutlich, und<lb/>
meine Selb&#x017F;tanklage wurde noch durch das Ge¬<lb/>
fu&#x0364;hl der Narrheit und Eitelkeit verbittert.</p><lb/>
        <p>Anna hatte wa&#x0364;hrend des Winters &#x017F;treng das<lb/>
Zimmer hu&#x0364;ten gemußt und wurde im Fru&#x0364;hling<lb/>
bettla&#x0364;gerig. Der arme Schulmei&#x017F;ter kam in die<lb/>
Stadt, um meine Mutter abzuholen; er weinte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0117] Drittes Kapitel. Dieſe Demuͤthigung traf mich um ſo ſtaͤrker, als ich, in Anna's Traͤumen und Ahnungen rein und gut zu erſcheinen, den Winter uͤber ein pu¬ ritaniſches Weſen angenommen hatte und nicht nur meine aͤußerliche Haltung, ſondern auch meine Gedanken ſorgfaͤltig uͤberwachte und mich beſtrebte wie ein Glas zu ſein, das man jeden Augenblick durchſchauen duͤrfe. Welche Ziererei und Selbſt¬ gefaͤlligkeit dabei thaͤtig war, wurde mir jetzt erſt bei dieſer gewaltſamen Stoͤrung deutlich, und meine Selbſtanklage wurde noch durch das Ge¬ fuͤhl der Narrheit und Eitelkeit verbittert. Anna hatte waͤhrend des Winters ſtreng das Zimmer huͤten gemußt und wurde im Fruͤhling bettlaͤgerig. Der arme Schulmeiſter kam in die Stadt, um meine Mutter abzuholen; er weinte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/117
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/117>, abgerufen am 30.12.2024.