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Kautsky, Karl; Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. 4. Aufl. Berlin, 1907.

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religiösen Gemeinschaft gültig sind, kümmert bloß ihre Angehörigen. Ob die
Beschlüsse, Glaubenssätze, Gesetze dieser privaten Bereinigungen vor der Wissen-
schaft Stich halten oder nicht, ob sie mit der Aufklärung in Widerspruch stehen
oder ihr Zugeständnisse machen, kommt für das Staatswesen nicht in Frage. Der
Staat darf nicht der Büttel sein, welcher der Ueberzeugung eines Einzelnen oder
einer Gemeinschaft mit Knebel und Handschellen zu Leibe geht. Die geistige
Entwickelung wird mit allen Rückständen aufräumen, und auf dem Felde des
Unterrichts hat das Gemeinwesen sich zu bewähren.

VII.
Weltlichkeit der Schule.

Jst die Religion Privatsache, ihre Pflege das Werk privater Verbände, so
ist folgerichtig die Schule, welche alle ohne Unterschied unterrichtet und im
Dienste der Gesamtheit steht, eine rein weltliche Einrichtung. Der Unterrichts-
zweck ist die geistige Ausbildung, die Ueberrnittelung eines bestimmten Wissens,
einer Reihe tatsächlicher Kenntnisse, die geistige Ausbildung des heranwachsenden
Geschlechts. Die Unterweisung der Kinder mit religiösen Dingen zu verquicken
ist ein grundsätzlicher Fehler. Die Mitwirkung kirchlicher Kräfte beim Unterricht
ist deshalb unzulässig, die religiöse Unterweisung der Kinder, soweit eine solche
von der Familie für nötig gehalten wird, ist von dem Schulplane auszuschließen.
Hier etwas zu tun, ist Sache der Eltern oder ihrer kirchlichen Gemeinschaft; die
Schule wahrt ihr weltliches Wesen und hält sich von allen Beziehungen zu irgend
einem Glaubensbekenntnis fern. Sie erfüllt ihre Pflicht, wenn sie die erforder-
liche Summe von Kenntnissen und Fertigkeiten den Kindern mitteilt, durch gute
Zucht das kindliche Gemüt veredelt, schon in dem Kinde die Liebe zur Freiheit
pflegt und für die Einsicht in die staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte vor-
sorglich sich bemüht. Die Schule erziehe kenntnisreiche Menschen, gute Staats-
bürger, aber sie mache sich nicht zum Werkzeuge irgend einer kirchlichen Richtung.

Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen.

Die Schulpflicht ist zu einer Volksschulpflicht zu erweitern. Wenn alle
Kinder ohne Rücksicht auf die Stellung ihrer Eltern eine Schule zu besuchen ge-
halten sind, dann wird die Volksschule ihren Namen mit Recht verdienen. Dann
wird sie auch die natürliche Vorstufe für die höheren Unterrichtsstufen sein und
den unmittelbaren Uebergang eines jeden Befähigten von jener zu dieser ermög-
lichen. Heute trägt die Volksschule durchgängig die kapitalistischen Stempel an
der Stirne, sie ist in der Regel ihrem Wesen nach eine Armenschule, welche die
notdürftigsten Anfangsgründe einiger Fächer unzulänglich lehrt. Die Schulen
sind überfüllt, die schlechtbezahlten Lehrkräfte ungenügend. Jn Preußen wurden
noch 1901 858000 Schulkinder in überfüllten Klassen unterrichtet. Als überfüllt
gelten aber erst Klassen mit mehr als 70, in einklassigen Schulen sogar erst solche
mit mehr als 80 Schülern. Jn Norwegen dagegen darf keine Klasse mehr als
40 Schüler zählen. Die Zahl der Volksschüler, die wegen Raummangels in den
Volksschulen nicht Aufnahme fanden, hat in Preußen zugenommen, von 2409
im Jahre 1896 auf 2735 im Jahre 1901. Noch mehr wuchs der Lehrermangel.
Von 1896 bis 1901 stieg die Zahl der unbesetzten Lehrerstellen von 472 auf 1862.1)
Der gesetzlich festgestellte allgemeine Zwang zum Besuche der Volksschule hebt
diese auf einen höheren Stand, löscht den ihr heute anhaftenden Klassencharakter
aus, und wandelt sie zugleich in eine Vorbereitungsanstalt für die weiteren
Bildungsstufen um.

1) Näheres in "Der preußigsche Landtag", Handbuch für sozialdemokratische Landtags-
wähler. Berlin, Verlag der Buchhandlung Vorwärts, 1903.

religiösen Gemeinschaft gültig sind, kümmert bloß ihre Angehörigen. Ob die
Beschlüsse, Glaubenssätze, Gesetze dieser privaten Bereinigungen vor der Wissen-
schaft Stich halten oder nicht, ob sie mit der Aufklärung in Widerspruch stehen
oder ihr Zugeständnisse machen, kommt für das Staatswesen nicht in Frage. Der
Staat darf nicht der Büttel sein, welcher der Ueberzeugung eines Einzelnen oder
einer Gemeinschaft mit Knebel und Handschellen zu Leibe geht. Die geistige
Entwickelung wird mit allen Rückständen aufräumen, und auf dem Felde des
Unterrichts hat das Gemeinwesen sich zu bewähren.

VII.
Weltlichkeit der Schule.

Jst die Religion Privatsache, ihre Pflege das Werk privater Verbände, so
ist folgerichtig die Schule, welche alle ohne Unterschied unterrichtet und im
Dienste der Gesamtheit steht, eine rein weltliche Einrichtung. Der Unterrichts-
zweck ist die geistige Ausbildung, die Ueberrnittelung eines bestimmten Wissens,
einer Reihe tatsächlicher Kenntnisse, die geistige Ausbildung des heranwachsenden
Geschlechts. Die Unterweisung der Kinder mit religiösen Dingen zu verquicken
ist ein grundsätzlicher Fehler. Die Mitwirkung kirchlicher Kräfte beim Unterricht
ist deshalb unzulässig, die religiöse Unterweisung der Kinder, soweit eine solche
von der Familie für nötig gehalten wird, ist von dem Schulplane auszuschließen.
Hier etwas zu tun, ist Sache der Eltern oder ihrer kirchlichen Gemeinschaft; die
Schule wahrt ihr weltliches Wesen und hält sich von allen Beziehungen zu irgend
einem Glaubensbekenntnis fern. Sie erfüllt ihre Pflicht, wenn sie die erforder-
liche Summe von Kenntnissen und Fertigkeiten den Kindern mitteilt, durch gute
Zucht das kindliche Gemüt veredelt, schon in dem Kinde die Liebe zur Freiheit
pflegt und für die Einsicht in die staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte vor-
sorglich sich bemüht. Die Schule erziehe kenntnisreiche Menschen, gute Staats-
bürger, aber sie mache sich nicht zum Werkzeuge irgend einer kirchlichen Richtung.

Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen.

Die Schulpflicht ist zu einer Volksschulpflicht zu erweitern. Wenn alle
Kinder ohne Rücksicht auf die Stellung ihrer Eltern eine Schule zu besuchen ge-
halten sind, dann wird die Volksschule ihren Namen mit Recht verdienen. Dann
wird sie auch die natürliche Vorstufe für die höheren Unterrichtsstufen sein und
den unmittelbaren Uebergang eines jeden Befähigten von jener zu dieser ermög-
lichen. Heute trägt die Volksschule durchgängig die kapitalistischen Stempel an
der Stirne, sie ist in der Regel ihrem Wesen nach eine Armenschule, welche die
notdürftigsten Anfangsgründe einiger Fächer unzulänglich lehrt. Die Schulen
sind überfüllt, die schlechtbezahlten Lehrkräfte ungenügend. Jn Preußen wurden
noch 1901 858000 Schulkinder in überfüllten Klassen unterrichtet. Als überfüllt
gelten aber erst Klassen mit mehr als 70, in einklassigen Schulen sogar erst solche
mit mehr als 80 Schülern. Jn Norwegen dagegen darf keine Klasse mehr als
40 Schüler zählen. Die Zahl der Volksschüler, die wegen Raummangels in den
Volksschulen nicht Aufnahme fanden, hat in Preußen zugenommen, von 2409
im Jahre 1896 auf 2735 im Jahre 1901. Noch mehr wuchs der Lehrermangel.
Von 1896 bis 1901 stieg die Zahl der unbesetzten Lehrerstellen von 472 auf 1862.1)
Der gesetzlich festgestellte allgemeine Zwang zum Besuche der Volksschule hebt
diese auf einen höheren Stand, löscht den ihr heute anhaftenden Klassencharakter
aus, und wandelt sie zugleich in eine Vorbereitungsanstalt für die weiteren
Bildungsstufen um.

1) Näheres in „Der preußigsche Landtag“, Handbuch für sozialdemokratische Landtags-
wähler. Berlin, Verlag der Buchhandlung Vorwärts, 1903.
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[44/0046] religiösen Gemeinschaft gültig sind, kümmert bloß ihre Angehörigen. Ob die Beschlüsse, Glaubenssätze, Gesetze dieser privaten Bereinigungen vor der Wissen- schaft Stich halten oder nicht, ob sie mit der Aufklärung in Widerspruch stehen oder ihr Zugeständnisse machen, kommt für das Staatswesen nicht in Frage. Der Staat darf nicht der Büttel sein, welcher der Ueberzeugung eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft mit Knebel und Handschellen zu Leibe geht. Die geistige Entwickelung wird mit allen Rückständen aufräumen, und auf dem Felde des Unterrichts hat das Gemeinwesen sich zu bewähren. VII. Weltlichkeit der Schule. Jst die Religion Privatsache, ihre Pflege das Werk privater Verbände, so ist folgerichtig die Schule, welche alle ohne Unterschied unterrichtet und im Dienste der Gesamtheit steht, eine rein weltliche Einrichtung. Der Unterrichts- zweck ist die geistige Ausbildung, die Ueberrnittelung eines bestimmten Wissens, einer Reihe tatsächlicher Kenntnisse, die geistige Ausbildung des heranwachsenden Geschlechts. Die Unterweisung der Kinder mit religiösen Dingen zu verquicken ist ein grundsätzlicher Fehler. Die Mitwirkung kirchlicher Kräfte beim Unterricht ist deshalb unzulässig, die religiöse Unterweisung der Kinder, soweit eine solche von der Familie für nötig gehalten wird, ist von dem Schulplane auszuschließen. Hier etwas zu tun, ist Sache der Eltern oder ihrer kirchlichen Gemeinschaft; die Schule wahrt ihr weltliches Wesen und hält sich von allen Beziehungen zu irgend einem Glaubensbekenntnis fern. Sie erfüllt ihre Pflicht, wenn sie die erforder- liche Summe von Kenntnissen und Fertigkeiten den Kindern mitteilt, durch gute Zucht das kindliche Gemüt veredelt, schon in dem Kinde die Liebe zur Freiheit pflegt und für die Einsicht in die staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte vor- sorglich sich bemüht. Die Schule erziehe kenntnisreiche Menschen, gute Staats- bürger, aber sie mache sich nicht zum Werkzeuge irgend einer kirchlichen Richtung. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Die Schulpflicht ist zu einer Volksschulpflicht zu erweitern. Wenn alle Kinder ohne Rücksicht auf die Stellung ihrer Eltern eine Schule zu besuchen ge- halten sind, dann wird die Volksschule ihren Namen mit Recht verdienen. Dann wird sie auch die natürliche Vorstufe für die höheren Unterrichtsstufen sein und den unmittelbaren Uebergang eines jeden Befähigten von jener zu dieser ermög- lichen. Heute trägt die Volksschule durchgängig die kapitalistischen Stempel an der Stirne, sie ist in der Regel ihrem Wesen nach eine Armenschule, welche die notdürftigsten Anfangsgründe einiger Fächer unzulänglich lehrt. Die Schulen sind überfüllt, die schlechtbezahlten Lehrkräfte ungenügend. Jn Preußen wurden noch 1901 858000 Schulkinder in überfüllten Klassen unterrichtet. Als überfüllt gelten aber erst Klassen mit mehr als 70, in einklassigen Schulen sogar erst solche mit mehr als 80 Schülern. Jn Norwegen dagegen darf keine Klasse mehr als 40 Schüler zählen. Die Zahl der Volksschüler, die wegen Raummangels in den Volksschulen nicht Aufnahme fanden, hat in Preußen zugenommen, von 2409 im Jahre 1896 auf 2735 im Jahre 1901. Noch mehr wuchs der Lehrermangel. Von 1896 bis 1901 stieg die Zahl der unbesetzten Lehrerstellen von 472 auf 1862. 1) Der gesetzlich festgestellte allgemeine Zwang zum Besuche der Volksschule hebt diese auf einen höheren Stand, löscht den ihr heute anhaftenden Klassencharakter aus, und wandelt sie zugleich in eine Vorbereitungsanstalt für die weiteren Bildungsstufen um. 1) Näheres in „Der preußigsche Landtag“, Handbuch für sozialdemokratische Landtags- wähler. Berlin, Verlag der Buchhandlung Vorwärts, 1903.

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-12-08T17:50:02Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-12-08T17:50:02Z)

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Zitationshilfe: Kautsky, Karl; Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. 4. Aufl. Berlin, 1907, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kautsky_grundsaetze_1907/46>, abgerufen am 22.12.2024.