Kautsky, Karl; Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. 4. Aufl. Berlin, 1907.Jm öffentlichen wie im privaten Recht die Unterordnung des Weibes, die Gegenüber diesen nüchternen Zahlen, welche den Umschwung der Verhält- VI. Erklärung der Religion zur Privatsache. Jst die Meinungsfreiheit und die Gleichstellung aller seiner Angehörigen Jm öffentlichen wie im privaten Recht die Unterordnung des Weibes, die Gegenüber diesen nüchternen Zahlen, welche den Umschwung der Verhält- VI. Erklärung der Religion zur Privatsache. Jst die Meinungsfreiheit und die Gleichstellung aller seiner Angehörigen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0044" n="42"/> <p>Jm öffentlichen wie im privaten Recht die Unterordnung des Weibes, die<lb/> Vormundschaft und das Vorrecht des Mannes. Kein Anteil am politischen<lb/> Leben, keine Freiheit der Ausbildung, der Berufstätigkeit, kein Stimm- und<lb/> Wahlrecht; privatrechtlich Einschränkung über Einschränkung in der Verwaltung<lb/> der eigenen Angelegenheiten, mag es sich um eine Bürgschaft, um einen letzten<lb/> Willen, um die Geschicke der Familie handeln. Der Widerspruch der gesellschaft-<lb/> lichen Tatsachen mit den bestehenden Gesetzen ist ein offenbarer. Die Frau ist<lb/> mitten in den Strudel des wirtschaftlichen Lebens hineingerissen, sie ist auf eigene<lb/> Füße gestellt, zum Erwerb außerhalb des Hauses, fern vom eigenen Herde ge-<lb/> zwungen worden. Mit der Frauenarbeit, welche einen immer stärkeren Bruch-<lb/> teil der gewerblichen Arbeit bildet, ist eine Gesetzgebung nicht vereinbar, welche<lb/> das Weib als das durchaus abhängige Mündel des für seinen Unterhalt<lb/> sorgenden Mannes auffaßt, während in Wirklichkeit das Weib immer mehr<lb/> selbsttätig wird, selbst erwirbt und oft genug den gesamten Haushalt, den Mann<lb/> und die Kinder zu erhalten genötigt ist. Je empfindlicher der Rückschritt der<lb/> Lage des arbeitenden Volkes, desto größer die Zunahme der Ehelosigkeit, desto<lb/> schärfer die Zuspitzung der Frauenfrage. Gerade das Weib, das die Männer aus<lb/> einem Erwerbszweige nach dem andern verdrängt, das den schäbigsten Angriffen<lb/> des Unternehmertums am meisten ausgesetzt, das unter den bestehenden Verhält-<lb/> nissen zu harter Arbeit bei niedrigstem Entgelt verurteilt ist und oft genug nicht<lb/> bloß seine Arbeitskraft, sondern auch seinen Leib verkaufen muß, das Weib, sagen<lb/> wir, ist am hülflosesten dem Sturm und Drang des Daseinskampfes überant-<lb/> wortet, ist rechtlos und mit tausend Banden gefesselt. Jm Deutschen Reich hat<lb/> sich die Zahl der erwerbstätigen Frauen von 1882—1895 von 5541000 auf<lb/> 6578000, um über <hi rendition="#g">eine Million</hi> vermehrt. Sie nahmen verhältnismäßig<lb/> viel rascher zu als die erwerbstätigen Männer. Jn Jndustrie und Handel ver-<lb/> mehrten sich im genannten Zeitraum die männlichen Lohnarbeiter um 53 Pro-<lb/> zent, die weiblichen um 105 Prozent, ihre Zahl wuchs also <hi rendition="#g">doppelt so rasch</hi>,<lb/> wie die der Männer. Unter den ländlichen Wanderarbeitern, den Sachsen-<lb/> gängern sind die Mehrzahl weibliche Arbeitskräfte. Unter 544980 Heimar-<lb/> beitern, den schlechtestbezahlten und am elendesten gestellten Arbeitern, gab es<lb/> 247654 Frauen.</p><lb/> <p>Gegenüber diesen nüchternen Zahlen, welche den Umschwung der Verhält-<lb/> nisse klipp und klar aufzeigen, – und wir stehen erst in einem der ersten Ab-<lb/> schnitte dieser wirtschaftlichen Umwälzung – ist die Unhaltbarkeit der Männer-<lb/> herrschaft, von allem anderen abgesehen, nicht zu leugnen. Jn der Arbeiterklasse,<lb/> der Trägerin einer hoffnungsreichen Zukunft, setzt sich die Veränderung am<lb/> schärfsten durch und ihr ist es darum vorbehalten, auch die Frauenfrage, welche<lb/> ein notwendiger Bestandteil der Arbeiterfrage ist, zu einer glücklichen Lösung zu<lb/> bringen. Sie hat deshalb, unbeschadet der Rücksicht auf die aus dem Geschlechts-<lb/> verhältnis sich ergebenden natürlichen Unterschiede, die schöne Aufgabe, die Aus-<lb/> nahmegesetze zu beseitigen, welche die gesellschaftliche und politische Gleich-<lb/> stellung des Weibes mit dem Manne noch verhindern.</p><lb/> </div> <div n="3"> <head><hi rendition="#aq">VI</hi>.</head><lb/> <div n="4"> <head>Erklärung der Religion zur Privatsache.</head><lb/> <p>Jst die Meinungsfreiheit und die Gleichstellung aller seiner Angehörigen<lb/> ein Erfordernis jedes gesitteten Gemeinwesens, so ergibt sich, daß jeder auch in<lb/> Glaubenssachen befugt ist, sich allein nach seiner Ueberzeugung zu richten und<lb/> zu dem Glauben sich zu bekennen, welchen er für den besten hält. Die Gemein-<lb/> schaft hat demnach die vollkommene Bekenntnisfreiheit zu verbürgen. Diejenigen,<lb/> welche die Entwickelungsstufe des religiösen Bewußtseins hinter sich, welche sie<lb/> überwunden haben, müssen den gleichen Rechtsschutz, dieselbe Sicherheit, wie die<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0044]
Jm öffentlichen wie im privaten Recht die Unterordnung des Weibes, die
Vormundschaft und das Vorrecht des Mannes. Kein Anteil am politischen
Leben, keine Freiheit der Ausbildung, der Berufstätigkeit, kein Stimm- und
Wahlrecht; privatrechtlich Einschränkung über Einschränkung in der Verwaltung
der eigenen Angelegenheiten, mag es sich um eine Bürgschaft, um einen letzten
Willen, um die Geschicke der Familie handeln. Der Widerspruch der gesellschaft-
lichen Tatsachen mit den bestehenden Gesetzen ist ein offenbarer. Die Frau ist
mitten in den Strudel des wirtschaftlichen Lebens hineingerissen, sie ist auf eigene
Füße gestellt, zum Erwerb außerhalb des Hauses, fern vom eigenen Herde ge-
zwungen worden. Mit der Frauenarbeit, welche einen immer stärkeren Bruch-
teil der gewerblichen Arbeit bildet, ist eine Gesetzgebung nicht vereinbar, welche
das Weib als das durchaus abhängige Mündel des für seinen Unterhalt
sorgenden Mannes auffaßt, während in Wirklichkeit das Weib immer mehr
selbsttätig wird, selbst erwirbt und oft genug den gesamten Haushalt, den Mann
und die Kinder zu erhalten genötigt ist. Je empfindlicher der Rückschritt der
Lage des arbeitenden Volkes, desto größer die Zunahme der Ehelosigkeit, desto
schärfer die Zuspitzung der Frauenfrage. Gerade das Weib, das die Männer aus
einem Erwerbszweige nach dem andern verdrängt, das den schäbigsten Angriffen
des Unternehmertums am meisten ausgesetzt, das unter den bestehenden Verhält-
nissen zu harter Arbeit bei niedrigstem Entgelt verurteilt ist und oft genug nicht
bloß seine Arbeitskraft, sondern auch seinen Leib verkaufen muß, das Weib, sagen
wir, ist am hülflosesten dem Sturm und Drang des Daseinskampfes überant-
wortet, ist rechtlos und mit tausend Banden gefesselt. Jm Deutschen Reich hat
sich die Zahl der erwerbstätigen Frauen von 1882—1895 von 5541000 auf
6578000, um über eine Million vermehrt. Sie nahmen verhältnismäßig
viel rascher zu als die erwerbstätigen Männer. Jn Jndustrie und Handel ver-
mehrten sich im genannten Zeitraum die männlichen Lohnarbeiter um 53 Pro-
zent, die weiblichen um 105 Prozent, ihre Zahl wuchs also doppelt so rasch,
wie die der Männer. Unter den ländlichen Wanderarbeitern, den Sachsen-
gängern sind die Mehrzahl weibliche Arbeitskräfte. Unter 544980 Heimar-
beitern, den schlechtestbezahlten und am elendesten gestellten Arbeitern, gab es
247654 Frauen.
Gegenüber diesen nüchternen Zahlen, welche den Umschwung der Verhält-
nisse klipp und klar aufzeigen, – und wir stehen erst in einem der ersten Ab-
schnitte dieser wirtschaftlichen Umwälzung – ist die Unhaltbarkeit der Männer-
herrschaft, von allem anderen abgesehen, nicht zu leugnen. Jn der Arbeiterklasse,
der Trägerin einer hoffnungsreichen Zukunft, setzt sich die Veränderung am
schärfsten durch und ihr ist es darum vorbehalten, auch die Frauenfrage, welche
ein notwendiger Bestandteil der Arbeiterfrage ist, zu einer glücklichen Lösung zu
bringen. Sie hat deshalb, unbeschadet der Rücksicht auf die aus dem Geschlechts-
verhältnis sich ergebenden natürlichen Unterschiede, die schöne Aufgabe, die Aus-
nahmegesetze zu beseitigen, welche die gesellschaftliche und politische Gleich-
stellung des Weibes mit dem Manne noch verhindern.
VI.
Erklärung der Religion zur Privatsache.
Jst die Meinungsfreiheit und die Gleichstellung aller seiner Angehörigen
ein Erfordernis jedes gesitteten Gemeinwesens, so ergibt sich, daß jeder auch in
Glaubenssachen befugt ist, sich allein nach seiner Ueberzeugung zu richten und
zu dem Glauben sich zu bekennen, welchen er für den besten hält. Die Gemein-
schaft hat demnach die vollkommene Bekenntnisfreiheit zu verbürgen. Diejenigen,
welche die Entwickelungsstufe des religiösen Bewußtseins hinter sich, welche sie
überwunden haben, müssen den gleichen Rechtsschutz, dieselbe Sicherheit, wie die
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Zitationshilfe: | Kautsky, Karl; Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. 4. Aufl. Berlin, 1907, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kautsky_grundsaetze_1907/44>, abgerufen am 03.03.2025. |