Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.Eine Rede zu Gott über die Kürze der Zeit. Herr, der du über uns des Tages Wagen lenken Mit deinem Winke kannst, Herr, lehre mich bedenken, Daß ich davon muß aus der Zeit. Mein Leben flieht dahin, ist kurz, ist nur so breit, Als diese Hand, mit der ich schreibe; O warum denk' ich mir hier eine Ewigkeit In einer Welt, in der ich vierzig, funfzig Jahr, Wenns hoch kömmt, zweymahl vierzig Ernten bleibe! Herr! wenn du fragen wirst, wie lang ich Wandrer war Hier unter dir auf deiner Erde? Wie ich die Stunden angewandt? O Gott! bey dem Gedank erzittert mein Verstand, Was ich dir Antwort geben werde. Früh oder spät schlägt meine Stunde mir, Bestimmt zur letzten meiner Stunden, Eh ich gebildet ward von dir, Zehntausend werden wie erwürgt befunden, Zehntausend bracht ich fühlloß zu, Ohn daß ich Guts ohn daß ich Böses wollte, Eine Rede zu Gott uͤber die Kuͤrze der Zeit. Herr, der du uͤber uns des Tages Wagen lenken Mit deinem Winke kannſt, Herr, lehre mich bedenken, Daß ich davon muß aus der Zeit. Mein Leben flieht dahin, iſt kurz, iſt nur ſo breit, Als dieſe Hand, mit der ich ſchreibe; O warum denk’ ich mir hier eine Ewigkeit In einer Welt, in der ich vierzig, funfzig Jahr, Wenns hoch koͤmmt, zweymahl vierzig Ernten bleibe! Herr! wenn du fragen wirſt, wie lang ich Wandrer war Hier unter dir auf deiner Erde? Wie ich die Stunden angewandt? O Gott! bey dem Gedank erzittert mein Verſtand, Was ich dir Antwort geben werde. Fruͤh oder ſpaͤt ſchlaͤgt meine Stunde mir, Beſtimmt zur letzten meiner Stunden, Eh ich gebildet ward von dir, Zehntauſend werden wie erwuͤrgt befunden, Zehntauſend bracht ich fuͤhlloß zu, Ohn daß ich Guts ohn daß ich Boͤſes wollte, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0466" n="306"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Eine Rede zu Gott<lb/><hi rendition="#g">uͤber die Kuͤrze der Zeit</hi>.</hi> </head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l><hi rendition="#in">H</hi>err, der du uͤber uns des Tages Wagen lenken</l><lb/> <l>Mit deinem Winke kannſt, Herr, lehre mich bedenken,</l><lb/> <l>Daß ich davon muß aus der Zeit.</l><lb/> <l>Mein Leben flieht dahin, iſt kurz, iſt nur ſo breit,</l><lb/> <l>Als dieſe Hand, mit der ich ſchreibe;</l><lb/> <l>O warum denk’ ich mir hier eine Ewigkeit</l><lb/> <l>In einer Welt, in der ich vierzig, funfzig Jahr,</l><lb/> <l>Wenns hoch koͤmmt, zweymahl vierzig Ernten bleibe!</l><lb/> <l>Herr! wenn du fragen wirſt, wie lang ich Wandrer war</l><lb/> <l>Hier unter dir auf deiner Erde?</l><lb/> <l>Wie ich die Stunden angewandt?</l><lb/> <l>O Gott! bey dem Gedank erzittert mein Verſtand,</l><lb/> <l>Was ich dir Antwort geben werde.</l><lb/> <l>Fruͤh oder ſpaͤt ſchlaͤgt meine Stunde mir,</l><lb/> <l>Beſtimmt zur letzten meiner Stunden,</l><lb/> <l>Eh ich gebildet ward von dir,</l><lb/> <l>Zehntauſend werden wie erwuͤrgt befunden,</l><lb/> <l>Zehntauſend bracht ich fuͤhlloß zu,</l><lb/> <l>Ohn daß ich Guts ohn daß ich Boͤſes wollte,</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [306/0466]
Eine Rede zu Gott
uͤber die Kuͤrze der Zeit.
Herr, der du uͤber uns des Tages Wagen lenken
Mit deinem Winke kannſt, Herr, lehre mich bedenken,
Daß ich davon muß aus der Zeit.
Mein Leben flieht dahin, iſt kurz, iſt nur ſo breit,
Als dieſe Hand, mit der ich ſchreibe;
O warum denk’ ich mir hier eine Ewigkeit
In einer Welt, in der ich vierzig, funfzig Jahr,
Wenns hoch koͤmmt, zweymahl vierzig Ernten bleibe!
Herr! wenn du fragen wirſt, wie lang ich Wandrer war
Hier unter dir auf deiner Erde?
Wie ich die Stunden angewandt?
O Gott! bey dem Gedank erzittert mein Verſtand,
Was ich dir Antwort geben werde.
Fruͤh oder ſpaͤt ſchlaͤgt meine Stunde mir,
Beſtimmt zur letzten meiner Stunden,
Eh ich gebildet ward von dir,
Zehntauſend werden wie erwuͤrgt befunden,
Zehntauſend bracht ich fuͤhlloß zu,
Ohn daß ich Guts ohn daß ich Boͤſes wollte,
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