Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.Der Adler und die Pfeifvögel. Eine Fabel. Ein Adlererbe gab vor Zeiten Der ersten Nachtigall den Preis, Er hatte sie behorcht von weiten Schon manchen Mai, da noch der Greiß Sein Vorfahr königlich regierte, Der auf ihr Lied nie Acht gehabt. Jezt ward sie öffentlich begabt Mit Ehre, die ihr längst gebührte. Ha! nun erhub sich ein Geschrei: Der neue Felsbesitzer sey Ein großer Freund des Singechores -- Da pfiffen Amsel, Drossel, Staar, Und Gümpel, und die ganze Schaar Versprach sich auch des Adlerohres Gehör bei ihrem Schnabelschall; Er aber ließ herab befehlen: Schont Eure Schnäbel, eure Kehlen! Mein Ohr gehört der Nachtigall. S 2
Der Adler und die Pfeifvoͤgel. Eine Fabel. Ein Adlererbe gab vor Zeiten Der erſten Nachtigall den Preis, Er hatte ſie behorcht von weiten Schon manchen Mai, da noch der Greiß Sein Vorfahr koͤniglich regierte, Der auf ihr Lied nie Acht gehabt. Jezt ward ſie oͤffentlich begabt Mit Ehre, die ihr laͤngſt gebuͤhrte. Ha! nun erhub ſich ein Geſchrei: Der neue Felsbeſitzer ſey Ein großer Freund des Singechores — Da pfiffen Amſel, Droſſel, Staar, Und Guͤmpel, und die ganze Schaar Verſprach ſich auch des Adlerohres Gehoͤr bei ihrem Schnabelſchall; Er aber ließ herab befehlen: Schont Eure Schnaͤbel, eure Kehlen! Mein Ohr gehoͤrt der Nachtigall. S 2
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Der Adler und die Pfeifvoͤgel.
Eine Fabel.
Ein Adlererbe gab vor Zeiten
Der erſten Nachtigall den Preis,
Er hatte ſie behorcht von weiten
Schon manchen Mai, da noch der Greiß
Sein Vorfahr koͤniglich regierte,
Der auf ihr Lied nie Acht gehabt.
Jezt ward ſie oͤffentlich begabt
Mit Ehre, die ihr laͤngſt gebuͤhrte.
Ha! nun erhub ſich ein Geſchrei:
Der neue Felsbeſitzer ſey
Ein großer Freund des Singechores —
Da pfiffen Amſel, Droſſel, Staar,
Und Guͤmpel, und die ganze Schaar
Verſprach ſich auch des Adlerohres
Gehoͤr bei ihrem Schnabelſchall;
Er aber ließ herab befehlen:
Schont Eure Schnaͤbel, eure Kehlen!
Mein Ohr gehoͤrt der Nachtigall.
S 2
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Zitationshilfe: | Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/435>, abgerufen am 21.02.2025. |