§. 47. Erläuterung und Bestätigung obiger Erklärung vom Genie.
Darinn ist jedermann einig, daß Genie dem Nach- ahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen sey. Da nun Lernen nichts als Nachahmen ist, so kann die größte Fähigkeit, Gelehrigkeit (Capacität) als Gelehrigkeit doch nicht für Genie gelteu. Wenn man aber auch selbst denkt oder dichtet und nicht blos was andere gedacht ha- ben auffaßt, ja sogar für Kunst und Wissenschaft man- ches erfindet, so ist doch dieses auch noch nicht der rechte Grund um einen solchen (oftmals großen) Kopf (im Gegensatze mit dem, der, weil er niemals was mehr als blos lernen und nachahmen kann, ein Pinsel heißt) ein Genie zu nennen: weil eben das auch hätte können gelernet werden, also doch auf dem natürlichen Wege des Forschens und Nachdenkens nach Regeln liegt und von dem, was durch Fleis vermittelst der Nachahmung erworben werden kann, nicht specifisch unterschieden ist. So kann man alles was Newton in seinem unsterblichen Werke der Principien der Naturphilosophie, so ein gro- ßer Kopf auch erforderlich war dergleichen zu erfinden, gar wohl lernen, aber man kann nicht geistreich dichten lernen, so ausführlich auch alle Vorschriften für die Dichtkunst und so vortreflich auch die Muster derselben seyn mögen. Die Ursache ist, daß Newton alle seine
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
§. 47. Erlaͤuterung und Beſtaͤtigung obiger Erklaͤrung vom Genie.
Darinn iſt jedermann einig, daß Genie dem Nach- ahmungsgeiſte gaͤnzlich entgegen zu ſetzen ſey. Da nun Lernen nichts als Nachahmen iſt, ſo kann die groͤßte Faͤhigkeit, Gelehrigkeit (Capacitaͤt) als Gelehrigkeit doch nicht fuͤr Genie gelteu. Wenn man aber auch ſelbſt denkt oder dichtet und nicht blos was andere gedacht ha- ben auffaßt, ja ſogar fuͤr Kunſt und Wiſſenſchaft man- ches erfindet, ſo iſt doch dieſes auch noch nicht der rechte Grund um einen ſolchen (oftmals großen) Kopf (im Gegenſatze mit dem, der, weil er niemals was mehr als blos lernen und nachahmen kann, ein Pinſel heißt) ein Genie zu nennen: weil eben das auch haͤtte koͤnnen gelernet werden, alſo doch auf dem natuͤrlichen Wege des Forſchens und Nachdenkens nach Regeln liegt und von dem, was durch Fleis vermittelſt der Nachahmung erworben werden kann, nicht ſpecifiſch unterſchieden iſt. So kann man alles was Newton in ſeinem unſterblichen Werke der Principien der Naturphiloſophie, ſo ein gro- ßer Kopf auch erforderlich war dergleichen zu erfinden, gar wohl lernen, aber man kann nicht geiſtreich dichten lernen, ſo ausfuͤhrlich auch alle Vorſchriften fuͤr die Dichtkunſt und ſo vortreflich auch die Muſter derſelben ſeyn moͤgen. Die Urſache iſt, daß Newton alle ſeine
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
§. 47.
Erlaͤuterung und Beſtaͤtigung obiger
Erklaͤrung vom Genie.
Darinn iſt jedermann einig, daß Genie dem Nach-
ahmungsgeiſte gaͤnzlich entgegen zu ſetzen ſey. Da
nun Lernen nichts als Nachahmen iſt, ſo kann die groͤßte
Faͤhigkeit, Gelehrigkeit (Capacitaͤt) als Gelehrigkeit doch
nicht fuͤr Genie gelteu. Wenn man aber auch ſelbſt
denkt oder dichtet und nicht blos was andere gedacht ha-
ben auffaßt, ja ſogar fuͤr Kunſt und Wiſſenſchaft man-
ches erfindet, ſo iſt doch dieſes auch noch nicht der rechte
Grund um einen ſolchen (oftmals großen) Kopf (im
Gegenſatze mit dem, der, weil er niemals was mehr als
blos lernen und nachahmen kann, ein Pinſel heißt) ein
Genie zu nennen: weil eben das auch haͤtte koͤnnen
gelernet werden, alſo doch auf dem natuͤrlichen Wege
des Forſchens und Nachdenkens nach Regeln liegt und
von dem, was durch Fleis vermittelſt der Nachahmung
erworben werden kann, nicht ſpecifiſch unterſchieden iſt.
So kann man alles was Newton in ſeinem unſterblichen
Werke der Principien der Naturphiloſophie, ſo ein gro-
ßer Kopf auch erforderlich war dergleichen zu erfinden,
gar wohl lernen, aber man kann nicht geiſtreich dichten
lernen, ſo ausfuͤhrlich auch alle Vorſchriften fuͤr die
Dichtkunſt und ſo vortreflich auch die Muſter derſelben
ſeyn moͤgen. Die Urſache iſt, daß Newton alle ſeine
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/245>, abgerufen am 20.11.2024.
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