Macht ist ein Vermögen, welches großen Hinder- nissen überlegen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist. Die Natur im ästhetischen Ur- theile als Macht, die über uns keine Gewalt hat, be- trachtet, ist dynamisch-erhaben.
Wenn von uns die Natur dynamisch als erhaben beurtheilt werden soll, so muß sie als Furcht erregend vorgestellt werden (obgleich nicht umgekehrt, jeder Furcht erregende Gegenstand in unserm ästhetischen Urtheile er- haben gefunden wird). Denn in der ästhetischen Beur- theilung (ohne Begrif) kann die Ueberlegenheit über Hindernisse nur nach der Größe des Widerstandes beur- theilt werden. Nun ist aber das, dem wir zu widerste- hen bestrebt sind, ein Uebel, und, wenn wir unser Ver- mögen demselben nicht gewachsen finden, ein Gegenstand der Furcht. Also kann für die ästhetische Urtheilskraft die Natur nur sofern als Macht, mithin dynamisch-er- haben, gelten, sofern sie als Gegenstand der Furcht be- trachtet wird.
Man kann aber einen Gegenstand als furchtbar betrachten, ohne sich vor ihm zu fürchten, wenn wir
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
B. Vom Dynamiſch-Erhabenen der Natur.
§. 28. Von der Natur als einer Macht.
Macht iſt ein Vermoͤgen, welches großen Hinder- niſſen uͤberlegen iſt. Eben dieſelbe heißt eine Gewalt, wenn ſie auch dem Widerſtande deſſen, was ſelbſt Macht beſitzt, uͤberlegen iſt. Die Natur im aͤſthetiſchen Ur- theile als Macht, die uͤber uns keine Gewalt hat, be- trachtet, iſt dynamiſch-erhaben.
Wenn von uns die Natur dynamiſch als erhaben beurtheilt werden ſoll, ſo muß ſie als Furcht erregend vorgeſtellt werden (obgleich nicht umgekehrt, jeder Furcht erregende Gegenſtand in unſerm aͤſthetiſchen Urtheile er- haben gefunden wird). Denn in der aͤſthetiſchen Beur- theilung (ohne Begrif) kann die Ueberlegenheit uͤber Hinderniſſe nur nach der Groͤße des Widerſtandes beur- theilt werden. Nun iſt aber das, dem wir zu widerſte- hen beſtrebt ſind, ein Uebel, und, wenn wir unſer Ver- moͤgen demſelben nicht gewachſen finden, ein Gegenſtand der Furcht. Alſo kann fuͤr die aͤſthetiſche Urtheilskraft die Natur nur ſofern als Macht, mithin dynamiſch-er- haben, gelten, ſofern ſie als Gegenſtand der Furcht be- trachtet wird.
Man kann aber einen Gegenſtand als furchtbar betrachten, ohne ſich vor ihm zu fuͤrchten, wenn wir
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
B.
Vom Dynamiſch-Erhabenen der Natur.
§. 28.
Von der Natur als einer Macht.
Macht iſt ein Vermoͤgen, welches großen Hinder-
niſſen uͤberlegen iſt. Eben dieſelbe heißt eine Gewalt,
wenn ſie auch dem Widerſtande deſſen, was ſelbſt Macht
beſitzt, uͤberlegen iſt. Die Natur im aͤſthetiſchen Ur-
theile als Macht, die uͤber uns keine Gewalt hat, be-
trachtet, iſt dynamiſch-erhaben.
Wenn von uns die Natur dynamiſch als erhaben
beurtheilt werden ſoll, ſo muß ſie als Furcht erregend
vorgeſtellt werden (obgleich nicht umgekehrt, jeder Furcht
erregende Gegenſtand in unſerm aͤſthetiſchen Urtheile er-
haben gefunden wird). Denn in der aͤſthetiſchen Beur-
theilung (ohne Begrif) kann die Ueberlegenheit uͤber
Hinderniſſe nur nach der Groͤße des Widerſtandes beur-
theilt werden. Nun iſt aber das, dem wir zu widerſte-
hen beſtrebt ſind, ein Uebel, und, wenn wir unſer Ver-
moͤgen demſelben nicht gewachſen finden, ein Gegenſtand
der Furcht. Alſo kann fuͤr die aͤſthetiſche Urtheilskraft
die Natur nur ſofern als Macht, mithin dynamiſch-er-
haben, gelten, ſofern ſie als Gegenſtand der Furcht be-
trachtet wird.
Man kann aber einen Gegenſtand als furchtbar
betrachten, ohne ſich vor ihm zu fuͤrchten, wenn wir
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/165>, abgerufen am 20.11.2024.
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