VI. Ueber die Postulate der reinen practischen Vernunft überhaupt.
Sie gehen alle vom Grundsatze der Moralität aus, der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch welches Vernunft mittelbar den Willen bestimmt, welcher Wille eben dadurch, daß er so bestimmt ist, als reiner Wille, diese nothwendige Bedingungen der Befolgung seiner Vorschrift fodert. Diese Postulate sind nicht theoreti- sche Dogmata, sondern Voraussetzungen in nothwen- dig practischer Rücksicht, erweitern also zwar das spe- culative Erkenntniß, geben aber den Ideen der specu- lativen Vernunft im Allgemeinen (vermittelst ihrer Beziehung aufs Practische) objective Realität, und be- rechtigen sie zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaaßen könnte.
Diese Postulate sind die der Unsterblichkeit, der Freyheit, positiv betrachtet, (als der Causalität eines Wesens, so fern es zur intelligibelen Welt gehört,) und des Daseyns Gottes. Das erste fließt aus der pra- ctisch nothwendigen Bedingung der Angemessenheit der Dauer zur Vollständigkeit der Erfüllung des moralischen Gesetzes; das zweyte aus der nothwendigen Voraus- setzung der Unabhängigkeit von der Sinnenwelt und des Vermögens der Bestimmung seines Willens, nach dem
Ge-
I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
VI. Ueber die Poſtulate der reinen practiſchen Vernunft uͤberhaupt.
Sie gehen alle vom Grundſatze der Moralitaͤt aus, der kein Poſtulat, ſondern ein Geſetz iſt, durch welches Vernunft mittelbar den Willen beſtimmt, welcher Wille eben dadurch, daß er ſo beſtimmt iſt, als reiner Wille, dieſe nothwendige Bedingungen der Befolgung ſeiner Vorſchrift fodert. Dieſe Poſtulate ſind nicht theoreti- ſche Dogmata, ſondern Vorausſetzungen in nothwen- dig practiſcher Ruͤckſicht, erweitern alſo zwar das ſpe- culative Erkenntniß, geben aber den Ideen der ſpecu- lativen Vernunft im Allgemeinen (vermittelſt ihrer Beziehung aufs Practiſche) objective Realitaͤt, und be- rechtigen ſie zu Begriffen, deren Moͤglichkeit auch nur zu behaupten ſie ſich ſonſt nicht anmaaßen koͤnnte.
Dieſe Poſtulate ſind die der Unſterblichkeit, der Freyheit, poſitiv betrachtet, (als der Cauſalitaͤt eines Weſens, ſo fern es zur intelligibelen Welt gehoͤrt,) und des Daſeyns Gottes. Das erſte fließt aus der pra- ctiſch nothwendigen Bedingung der Angemeſſenheit der Dauer zur Vollſtaͤndigkeit der Erfuͤllung des moraliſchen Geſetzes; das zweyte aus der nothwendigen Voraus- ſetzung der Unabhaͤngigkeit von der Sinnenwelt und des Vermoͤgens der Beſtimmung ſeines Willens, nach dem
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I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
VI.
Ueber die Poſtulate
der reinen practiſchen Vernunft uͤberhaupt.
Sie gehen alle vom Grundſatze der Moralitaͤt aus,
der kein Poſtulat, ſondern ein Geſetz iſt, durch welches
Vernunft mittelbar den Willen beſtimmt, welcher Wille
eben dadurch, daß er ſo beſtimmt iſt, als reiner Wille,
dieſe nothwendige Bedingungen der Befolgung ſeiner
Vorſchrift fodert. Dieſe Poſtulate ſind nicht theoreti-
ſche Dogmata, ſondern Vorausſetzungen in nothwen-
dig practiſcher Ruͤckſicht, erweitern alſo zwar das ſpe-
culative Erkenntniß, geben aber den Ideen der ſpecu-
lativen Vernunft im Allgemeinen (vermittelſt ihrer
Beziehung aufs Practiſche) objective Realitaͤt, und be-
rechtigen ſie zu Begriffen, deren Moͤglichkeit auch nur
zu behaupten ſie ſich ſonſt nicht anmaaßen koͤnnte.
Dieſe Poſtulate ſind die der Unſterblichkeit, der
Freyheit, poſitiv betrachtet, (als der Cauſalitaͤt eines
Weſens, ſo fern es zur intelligibelen Welt gehoͤrt,) und
des Daſeyns Gottes. Das erſte fließt aus der pra-
ctiſch nothwendigen Bedingung der Angemeſſenheit der
Dauer zur Vollſtaͤndigkeit der Erfuͤllung des moraliſchen
Geſetzes; das zweyte aus der nothwendigen Voraus-
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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/246>, abgerufen am 02.03.2025.
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