Unsre meisten Geographen haben sich für die Meinung erklärt, daß die Japaner von den Sinesern herstammen. Sie sind dazu vorzüglich durch folgende zwei Geschich- ten veranlaßt, die ihnen unsre Reisende aus diesen Ostgegenden überbracht haben. Die erste dieser Geschichten ist folgende: Es haben sich einmal in Sina viele Familien wider ihren Kaiser verschworen. Diese Verschwörung sei aber zu früh bekant geworden, und der Kaiser habe alle Schuldige ohne alle Gnade und Unterschied hinrichten lassen. Da man aber nach und nach immer mehr Verschworne entdekte, und des Bluvergießens müde wurde; so habe sich der Kaiser entschlossen, die Strafe des Todes in die einer ewigen Verbannung zu verwandeln. Man habe also die Verbrecher nach den damaligen rauhen und unbewohn- ten japanischen Eylanden verbant, und diese wären also die Stamväter der jetzigen zahlrei- chen und mächtigen japanischen Nation geworden.
Die andre Geschichte ist folgende: Ein kaiserlicher Leibarzt bildete seinem Herrn ein, der eine große Neigung hatte sich unsterblich zu machen,*) daß die Pflanzen, welche zu einer solchen Arznei nothwendig wären, nirgend anders als auf den japanischen Jnseln von unbeflekten jungen Personen könten gesucht werden. Er bat sich also vom Kaiser 300 reine Jünglinge und 300 reine Mädchen aus, mit denen er nach Japan überfuhr. Die Absicht des schlauen Arztes war aber nur diese, sich der Tirannei seines Herrn zu entziehen; und er wurde also mit seiner frischen Jugend der Stamvater der japanischen Nation.
Was die erste dieser Geschichten betrift, so wird sie sine die & consule von den unsrigen**) erzählt, und ist von Linschoot zuerst unter die Schriftsteller gebracht. Da
aber
*) Die gewöhnliche und eigenthümliche Thorheit fast aller Kaiser von Sina.
**) D. i. den Holländern.
Sechſtes Kapitel. Ueber den Urſprung der Japaner.
Unſre meiſten Geographen haben ſich fuͤr die Meinung erklaͤrt, daß die Japaner von den Sineſern herſtammen. Sie ſind dazu vorzuͤglich durch folgende zwei Geſchich- ten veranlaßt, die ihnen unſre Reiſende aus dieſen Oſtgegenden uͤberbracht haben. Die erſte dieſer Geſchichten iſt folgende: Es haben ſich einmal in Sina viele Familien wider ihren Kaiſer verſchworen. Dieſe Verſchwoͤrung ſei aber zu fruͤh bekant geworden, und der Kaiſer habe alle Schuldige ohne alle Gnade und Unterſchied hinrichten laſſen. Da man aber nach und nach immer mehr Verſchworne entdekte, und des Bluvergießens muͤde wurde; ſo habe ſich der Kaiſer entſchloſſen, die Strafe des Todes in die einer ewigen Verbannung zu verwandeln. Man habe alſo die Verbrecher nach den damaligen rauhen und unbewohn- ten japaniſchen Eylanden verbant, und dieſe waͤren alſo die Stamvaͤter der jetzigen zahlrei- chen und maͤchtigen japaniſchen Nation geworden.
Die andre Geſchichte iſt folgende: Ein kaiſerlicher Leibarzt bildete ſeinem Herrn ein, der eine große Neigung hatte ſich unſterblich zu machen,*) daß die Pflanzen, welche zu einer ſolchen Arznei nothwendig waͤren, nirgend anders als auf den japaniſchen Jnſeln von unbeflekten jungen Perſonen koͤnten geſucht werden. Er bat ſich alſo vom Kaiſer 300 reine Juͤnglinge und 300 reine Maͤdchen aus, mit denen er nach Japan uͤberfuhr. Die Abſicht des ſchlauen Arztes war aber nur dieſe, ſich der Tirannei ſeines Herrn zu entziehen; und er wurde alſo mit ſeiner friſchen Jugend der Stamvater der japaniſchen Nation.
Was die erſte dieſer Geſchichten betrift, ſo wird ſie ſine die & conſule von den unſrigen**) erzaͤhlt, und iſt von Linſchoot zuerſt unter die Schriftſteller gebracht. Da
aber
*) Die gewoͤhnliche und eigenthuͤmliche Thorheit faſt aller Kaiſer von Sina.
**) D. i. den Hollaͤndern.
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Sechſtes Kapitel.
Ueber den Urſprung der Japaner.
Unſre meiſten Geographen haben ſich fuͤr die Meinung erklaͤrt, daß die Japaner von
den Sineſern herſtammen. Sie ſind dazu vorzuͤglich durch folgende zwei Geſchich-
ten veranlaßt, die ihnen unſre Reiſende aus dieſen Oſtgegenden uͤberbracht haben. Die
erſte dieſer Geſchichten iſt folgende: Es haben ſich einmal in Sina viele Familien wider
ihren Kaiſer verſchworen. Dieſe Verſchwoͤrung ſei aber zu fruͤh bekant geworden, und der
Kaiſer habe alle Schuldige ohne alle Gnade und Unterſchied hinrichten laſſen. Da man
aber nach und nach immer mehr Verſchworne entdekte, und des Bluvergießens muͤde wurde;
ſo habe ſich der Kaiſer entſchloſſen, die Strafe des Todes in die einer ewigen Verbannung
zu verwandeln. Man habe alſo die Verbrecher nach den damaligen rauhen und unbewohn-
ten japaniſchen Eylanden verbant, und dieſe waͤren alſo die Stamvaͤter der jetzigen zahlrei-
chen und maͤchtigen japaniſchen Nation geworden.
Die andre Geſchichte iſt folgende: Ein kaiſerlicher Leibarzt bildete ſeinem Herrn
ein, der eine große Neigung hatte ſich unſterblich zu machen, *) daß die Pflanzen, welche
zu einer ſolchen Arznei nothwendig waͤren, nirgend anders als auf den japaniſchen Jnſeln
von unbeflekten jungen Perſonen koͤnten geſucht werden. Er bat ſich alſo vom Kaiſer 300
reine Juͤnglinge und 300 reine Maͤdchen aus, mit denen er nach Japan uͤberfuhr. Die
Abſicht des ſchlauen Arztes war aber nur dieſe, ſich der Tirannei ſeines Herrn zu entziehen;
und er wurde alſo mit ſeiner friſchen Jugend der Stamvater der japaniſchen Nation.
Was die erſte dieſer Geſchichten betrift, ſo wird ſie ſine die & conſule von den
unſrigen **) erzaͤhlt, und iſt von Linſchoot zuerſt unter die Schriftſteller gebracht. Da
aber
*) Die gewoͤhnliche und eigenthuͤmliche Thorheit faſt aller Kaiſer von Sina.
**) D. i. den Hollaͤndern.
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Kaempfer, Engelbert: Geschichte und Beschreibung von Japan. Hrsg. v. Christian Wilhelm von Dohm. Bd. 1. Lemgo, 1777, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kaempfer_japan01_1777/185>, abgerufen am 04.03.2025.
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