Der Bildnissmaler wird geboren, sagte der alte Pacheco. Ve- lazquez' kühles und doch feinfühliges Wesen, sein einfacher, red- licher, wahrhaftiger Charakter, wies ihn auf dieses Fach, das, mehr nach dem beobachtenden, nachahmenden Pol der Kunst, als nach dem schaffenden gravitirt; störende Einmischungen der Phantasie, dieses oft zu stark brechenden Mediums, hatte er nicht zu besorgen. Hätte er die Philosophie der Schule ge- lernt, er würde sich zum Nominalismus bekannt haben. Ihm fehlte das Organ für das Allgemeine, und folglich das Bedürf- niss ihm Gestalt zu geben; den Menschen, diesen höchsten Gegen- stand der bildenden Kunst, kannte er nur als Einzelwesen, das Individuum war ihm die "erste Substanz".
Wie er zum Bildnissmaler geboren war, so hat er sich auch selbst dazu erzogen. Längst ehe er ahnte, dass er Maler des Königs werden würde und fast nur als Bildnissmaler auf die Nachwelt kommen, als er noch in Sevilla Kirchenbilder und
[Abbildung]
Die Sibylle.
Die Bildnisskunst des Meisters.
Der Bildnissmaler wird geboren, sagte der alte Pacheco. Ve- lazquez’ kühles und doch feinfühliges Wesen, sein einfacher, red- licher, wahrhaftiger Charakter, wies ihn auf dieses Fach, das, mehr nach dem beobachtenden, nachahmenden Pol der Kunst, als nach dem schaffenden gravitirt; störende Einmischungen der Phantasie, dieses oft zu stark brechenden Mediums, hatte er nicht zu besorgen. Hätte er die Philosophie der Schule ge- lernt, er würde sich zum Nominalismus bekannt haben. Ihm fehlte das Organ für das Allgemeine, und folglich das Bedürf- niss ihm Gestalt zu geben; den Menschen, diesen höchsten Gegen- stand der bildenden Kunst, kannte er nur als Einzelwesen, das Individuum war ihm die „erste Substanz“.
Wie er zum Bildnissmaler geboren war, so hat er sich auch selbst dazu erzogen. Längst ehe er ahnte, dass er Maler des Königs werden würde und fast nur als Bildnissmaler auf die Nachwelt kommen, als er noch in Sevilla Kirchenbilder und
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[Abbildung Die Sibylle.]
Die Bildnisskunst des Meisters.
Der Bildnissmaler wird geboren, sagte der alte Pacheco. Ve-
lazquez’ kühles und doch feinfühliges Wesen, sein einfacher, red-
licher, wahrhaftiger Charakter, wies ihn auf dieses Fach, das,
mehr nach dem beobachtenden, nachahmenden Pol der Kunst,
als nach dem schaffenden gravitirt; störende Einmischungen
der Phantasie, dieses oft zu stark brechenden Mediums, hatte er
nicht zu besorgen. Hätte er die Philosophie der Schule ge-
lernt, er würde sich zum Nominalismus bekannt haben. Ihm
fehlte das Organ für das Allgemeine, und folglich das Bedürf-
niss ihm Gestalt zu geben; den Menschen, diesen höchsten Gegen-
stand der bildenden Kunst, kannte er nur als Einzelwesen, das
Individuum war ihm die „erste Substanz“.
Wie er zum Bildnissmaler geboren war, so hat er sich
auch selbst dazu erzogen. Längst ehe er ahnte, dass er Maler
des Königs werden würde und fast nur als Bildnissmaler auf
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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 2. Bonn, 1888, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez02_1888/23>, abgerufen am 21.11.2024.
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