C. Die abstracte Analyse. Vereinfachung des Thatbestandes. §. 55.
2. Analytische Vereinfachung des Thatbestandes.
Vereinfachung des Thatbestandes im Interesse des Beweises -- Ausscheidung lösbarer Elemente in Form selbständiger Begriffe und Verhältnisse -- die abstracte Eigenthumsübertragung (dop- pelte Beurtheilung desselben Aktes vom Standpunkt des Eigen- thums und der Obligation aus) -- die abstracte Obligation (die act. receptitia) -- der abstracte Rechtskörper (die juristische Per- son) -- Anwendung des Grundsatzes in den Verhältnissen des öffentlichen und des Privatrechts -- System der politischen Vitiö- sität -- Verfassungsmäßigkeit der Gesetze.
Denique sit quodvis simplex duntaxat et unum. Hor. ep. ad Pisones. v. 23.
L V. Die erfolgreiche Geltendmachung der Rechte hängt ab von dem Beweis ihres Thatbestandes, d. h. des Inbegriffs der Voraussetzungen, an welche das Gesetz die Entstehung derselben geknüpft hat. Der Beweis ist der Preis, um den die Rechte processualisch zu haben sind; je höher dieser Preis, d. h. je um- ständlicher, schwieriger der Beweis, um so mehr verringert sich der praktische Werth der Rechte, denn letzterer bestimmt sich, wie bei allen Dingen, nicht bloß nach ihrem Inhalt, nicht nach ihrer Brauchbarkeit an sich, sondern zugleich darnach, welcher Aufwand von Zeit, Mühe und Kosten erforderlich ist, um sich derselben zu versichern. Möglichste Erleichterung des Beweises ist daher eine der wichtigsten Rücksichten, die der Gesetzgeber und die Wissenschaft bei der Gestaltung des Rechts zu nehmen ha- ben; ein Beitrag zur Lösung dieser Aufgabe wiegt für den Verkehr mehr, als die feinste innere Ausbildung und Zuspitzung der Rechtsbegriffe -- die kostbarsten Güter sind werthlos, wenn die Kosten ihrer Erlangung den Gewinn verschlingen.
So einleuchtend diese Wahrheit ist, so viel fehlt doch, daß sie überall von der modernen Gesetzgebung und Wissenschaft in gebührender Weise berücksichtigt worden wäre, und man kann geradezu behaupten, daß der Fortschritt in Bezug auf die innere
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C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55.
2. Analytiſche Vereinfachung des Thatbeſtandes.
Vereinfachung des Thatbeſtandes im Intereſſe des Beweiſes — Ausſcheidung lösbarer Elemente in Form ſelbſtändiger Begriffe und Verhältniſſe — die abſtracte Eigenthumsübertragung (dop- pelte Beurtheilung deſſelben Aktes vom Standpunkt des Eigen- thums und der Obligation aus) — die abſtracte Obligation (die act. receptitia) — der abſtracte Rechtskörper (die juriſtiſche Per- ſon) — Anwendung des Grundſatzes in den Verhältniſſen des öffentlichen und des Privatrechts — Syſtem der politiſchen Vitiö- ſität — Verfaſſungsmäßigkeit der Geſetze.
Denique sit quodvis simplex duntaxat et unum. Hor. ep. ad Pisones. v. 23.
L V. Die erfolgreiche Geltendmachung der Rechte hängt ab von dem Beweis ihres Thatbeſtandes, d. h. des Inbegriffs der Vorausſetzungen, an welche das Geſetz die Entſtehung derſelben geknüpft hat. Der Beweis iſt der Preis, um den die Rechte proceſſualiſch zu haben ſind; je höher dieſer Preis, d. h. je um- ſtändlicher, ſchwieriger der Beweis, um ſo mehr verringert ſich der praktiſche Werth der Rechte, denn letzterer beſtimmt ſich, wie bei allen Dingen, nicht bloß nach ihrem Inhalt, nicht nach ihrer Brauchbarkeit an ſich, ſondern zugleich darnach, welcher Aufwand von Zeit, Mühe und Koſten erforderlich iſt, um ſich derſelben zu verſichern. Möglichſte Erleichterung des Beweiſes iſt daher eine der wichtigſten Rückſichten, die der Geſetzgeber und die Wiſſenſchaft bei der Geſtaltung des Rechts zu nehmen ha- ben; ein Beitrag zur Löſung dieſer Aufgabe wiegt für den Verkehr mehr, als die feinſte innere Ausbildung und Zuſpitzung der Rechtsbegriffe — die koſtbarſten Güter ſind werthlos, wenn die Koſten ihrer Erlangung den Gewinn verſchlingen.
So einleuchtend dieſe Wahrheit iſt, ſo viel fehlt doch, daß ſie überall von der modernen Geſetzgebung und Wiſſenſchaft in gebührender Weiſe berückſichtigt worden wäre, und man kann geradezu behaupten, daß der Fortſchritt in Bezug auf die innere
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C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55.
2. Analytiſche Vereinfachung des Thatbeſtandes.
Vereinfachung des Thatbeſtandes im Intereſſe des Beweiſes —
Ausſcheidung lösbarer Elemente in Form ſelbſtändiger Begriffe
und Verhältniſſe — die abſtracte Eigenthumsübertragung (dop-
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öffentlichen und des Privatrechts — Syſtem der politiſchen Vitiö-
ſität — Verfaſſungsmäßigkeit der Geſetze.
Denique sit quodvis simplex duntaxat et unum.
Hor. ep. ad Pisones. v. 23.
L V. Die erfolgreiche Geltendmachung der Rechte hängt ab
von dem Beweis ihres Thatbeſtandes, d. h. des Inbegriffs der
Vorausſetzungen, an welche das Geſetz die Entſtehung derſelben
geknüpft hat. Der Beweis iſt der Preis, um den die Rechte
proceſſualiſch zu haben ſind; je höher dieſer Preis, d. h. je um-
ſtändlicher, ſchwieriger der Beweis, um ſo mehr verringert ſich
der praktiſche Werth der Rechte, denn letzterer beſtimmt ſich, wie
bei allen Dingen, nicht bloß nach ihrem Inhalt, nicht nach
ihrer Brauchbarkeit an ſich, ſondern zugleich darnach, welcher
Aufwand von Zeit, Mühe und Koſten erforderlich iſt, um ſich
derſelben zu verſichern. Möglichſte Erleichterung des Beweiſes
iſt daher eine der wichtigſten Rückſichten, die der Geſetzgeber und
die Wiſſenſchaft bei der Geſtaltung des Rechts zu nehmen ha-
ben; ein Beitrag zur Löſung dieſer Aufgabe wiegt für den
Verkehr mehr, als die feinſte innere Ausbildung und Zuſpitzung
der Rechtsbegriffe — die koſtbarſten Güter ſind werthlos, wenn
die Koſten ihrer Erlangung den Gewinn verſchlingen.
So einleuchtend dieſe Wahrheit iſt, ſo viel fehlt doch, daß
ſie überall von der modernen Geſetzgebung und Wiſſenſchaft in
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/211>, abgerufen am 03.03.2025.
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