liebreich, wenn er solche barbarische Grau- samkeiten ungeahndet lassen wollte?
§. 21.
Bewegliche Bittschrift unehelicher Kinder an ihre Eltern, an die O- bern und an Gott.
Da mir so gar oft der traurige Anblick so verlassener und in ihrem Elende umkom- mender Kinder in die Augen fällt, und ich noch vor kurzen ein sehr schönes, wolgestal- tetes und gesundes Kind, dessen Hunger man aus Noth mit kaltem Meelbrey, der zu einem Buchbinderkleister geworden war, zu stillen suchte, in dem heftigsten Leibweh mit dem kläglichsten Geschrey sterben sahe, so hat mich die Wehmuth auf das Vorha- ben gebracht, diesen Verlassenen zum Be- sten, und in ihrem Namen folgende Bitt- schrift an ihre Väter, an die Obern, und an Gott aufzusetzen.
O Väter, die ihr uns gezeuget, uns aber hasset und uns den Tod wünschet, ihr die ihr wollüstige Blicke nach unseren be- thörten und unglücklichen Müttern gethan, ach! thut doch einen einzigen Blick auf uns Armselige. Ach lasset einmal unser ängstliches Schreyen in eure Ohren drin- gen, vielleicht bricht es euer Herz. Se- het, hier liegen wir, eure Kinder, ohne Decke in unserm Harn und Koth und erstarren für Kälte. Unsere Milch ist mit herben Gram vergällt, welcher aus dem Herzen einer von euch betrogenen Mutter quillt. Und hätten wir derselben nur genug. Aber
die
liebreich, wenn er ſolche barbariſche Grau- ſamkeiten ungeahndet laſſen wollte?
§. 21.
Bewegliche Bittſchrift unehelicher Kinder an ihre Eltern, an die O- bern und an Gott.
Da mir ſo gar oft der traurige Anblick ſo verlaſſener und in ihrem Elende umkom- mender Kinder in die Augen faͤllt, und ich noch vor kurzen ein ſehr ſchoͤnes, wolgeſtal- tetes und geſundes Kind, deſſen Hunger man aus Noth mit kaltem Meelbrey, der zu einem Buchbinderkleiſter geworden war, zu ſtillen ſuchte, in dem heftigſten Leibweh mit dem klaͤglichſten Geſchrey ſterben ſahe, ſo hat mich die Wehmuth auf das Vorha- ben gebracht, dieſen Verlaſſenen zum Be- ſten, und in ihrem Namen folgende Bitt- ſchrift an ihre Vaͤter, an die Obern, und an Gott aufzuſetzen.
O Vaͤter, die ihr uns gezeuget, uns aber haſſet und uns den Tod wuͤnſchet, ihr die ihr wolluͤſtige Blicke nach unſeren be- thoͤrten und ungluͤcklichen Muͤttern gethan, ach! thut doch einen einzigen Blick auf uns Armſelige. Ach laſſet einmal unſer aͤngſtliches Schreyen in eure Ohren drin- gen, vielleicht bricht es euer Herz. Se- het, hier liegen wir, eure Kinder, ohne Decke in unſerm Harn und Koth und erſtarren fuͤr Kaͤlte. Unſere Milch iſt mit herben Gram vergaͤllt, welcher aus dem Herzen einer von euch betrogenen Mutter quillt. Und haͤtten wir derſelben nur genug. Aber
die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0336"n="316"/>
liebreich, wenn er ſolche barbariſche Grau-<lb/>ſamkeiten ungeahndet laſſen wollte?</p></div><lb/><divn="2"><head>§. 21.</head><lb/><noteplace="left">Bewegliche<lb/>
Bittſchrift<lb/>
unehelicher<lb/>
Kinder an<lb/>
ihre Eltern,<lb/>
an die O-<lb/>
bern und an<lb/>
Gott.</note><p>Da mir ſo gar oft der traurige Anblick<lb/>ſo verlaſſener und in ihrem Elende umkom-<lb/>
mender Kinder in die Augen faͤllt, und ich<lb/>
noch vor kurzen ein ſehr ſchoͤnes, wolgeſtal-<lb/>
tetes und geſundes Kind, deſſen Hunger<lb/>
man aus Noth mit kaltem Meelbrey, der<lb/>
zu einem Buchbinderkleiſter geworden war,<lb/>
zu ſtillen ſuchte, in dem heftigſten Leibweh<lb/>
mit dem klaͤglichſten Geſchrey ſterben ſahe,<lb/>ſo hat mich die Wehmuth auf das Vorha-<lb/>
ben gebracht, dieſen Verlaſſenen zum Be-<lb/>ſten, und in ihrem Namen folgende Bitt-<lb/>ſchrift an ihre Vaͤter, an die Obern, und<lb/>
an Gott aufzuſetzen.</p><lb/><p>O Vaͤter, die ihr uns gezeuget, uns<lb/>
aber haſſet und uns den Tod wuͤnſchet, ihr<lb/>
die ihr wolluͤſtige Blicke nach unſeren be-<lb/>
thoͤrten und ungluͤcklichen Muͤttern gethan,<lb/>
ach! thut doch einen einzigen Blick auf uns<lb/>
Armſelige. Ach laſſet einmal unſer<lb/>
aͤngſtliches Schreyen in eure Ohren drin-<lb/>
gen, vielleicht bricht es euer Herz. Se-<lb/>
het, hier liegen wir, eure Kinder, ohne Decke<lb/>
in unſerm Harn und Koth und erſtarren<lb/>
fuͤr Kaͤlte. Unſere Milch iſt mit herben<lb/>
Gram vergaͤllt, welcher aus dem Herzen<lb/>
einer von euch betrogenen Mutter quillt.<lb/>
Und haͤtten wir derſelben nur genug. Aber<lb/><fwplace="bottom"type="catch">die</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[316/0336]
liebreich, wenn er ſolche barbariſche Grau-
ſamkeiten ungeahndet laſſen wollte?
§. 21.
Da mir ſo gar oft der traurige Anblick
ſo verlaſſener und in ihrem Elende umkom-
mender Kinder in die Augen faͤllt, und ich
noch vor kurzen ein ſehr ſchoͤnes, wolgeſtal-
tetes und geſundes Kind, deſſen Hunger
man aus Noth mit kaltem Meelbrey, der
zu einem Buchbinderkleiſter geworden war,
zu ſtillen ſuchte, in dem heftigſten Leibweh
mit dem klaͤglichſten Geſchrey ſterben ſahe,
ſo hat mich die Wehmuth auf das Vorha-
ben gebracht, dieſen Verlaſſenen zum Be-
ſten, und in ihrem Namen folgende Bitt-
ſchrift an ihre Vaͤter, an die Obern, und
an Gott aufzuſetzen.
O Vaͤter, die ihr uns gezeuget, uns
aber haſſet und uns den Tod wuͤnſchet, ihr
die ihr wolluͤſtige Blicke nach unſeren be-
thoͤrten und ungluͤcklichen Muͤttern gethan,
ach! thut doch einen einzigen Blick auf uns
Armſelige. Ach laſſet einmal unſer
aͤngſtliches Schreyen in eure Ohren drin-
gen, vielleicht bricht es euer Herz. Se-
het, hier liegen wir, eure Kinder, ohne Decke
in unſerm Harn und Koth und erſtarren
fuͤr Kaͤlte. Unſere Milch iſt mit herben
Gram vergaͤllt, welcher aus dem Herzen
einer von euch betrogenen Mutter quillt.
Und haͤtten wir derſelben nur genug. Aber
die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbarung antreffen. Bd. 4. Hannover, 1766, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen04_1766/336>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.