Mein sogenannter Vater, welcher den häusli- lichen Unfrieden, von dem ich die unschuldige Ur- sache war, nicht länger ertragen konnte, sagte zu meiner angeblichen Mutter: Desdemona, es muß geschieden seyn. Ich habe es geduldet, daß du mir täglich einige und dreißigmal sagtest, du seiest meine Gattin nicht aus Liebe zu mir, sondern aus Achtung für meinen seligen Vater, den Lügner, geworden; geduldet sechszehn Jahre und neun Monate lang, aber daß du diesen armen Wurm, den ich mir habe sauer genug werden lassen, beständig knuffst, wo du ihn siehst, verletzt mein Gefühl allzusehr. Lebe wohl, Desdemona, wir wollen einander nicht fluchen, wir wollen an einander schreiben, aber mit einander leben können wir nicht länger.
Ich. Fragment einer Bildungsgeſchichte.
Mein ſogenannter Vater, welcher den häusli- lichen Unfrieden, von dem ich die unſchuldige Ur- ſache war, nicht länger ertragen konnte, ſagte zu meiner angeblichen Mutter: Desdemona, es muß geſchieden ſeyn. Ich habe es geduldet, daß du mir täglich einige und dreißigmal ſagteſt, du ſeieſt meine Gattin nicht aus Liebe zu mir, ſondern aus Achtung für meinen ſeligen Vater, den Lügner, geworden; geduldet ſechszehn Jahre und neun Monate lang, aber daß du dieſen armen Wurm, den ich mir habe ſauer genug werden laſſen, beſtändig knuffſt, wo du ihn ſiehſt, verletzt mein Gefühl allzuſehr. Lebe wohl, Desdemona, wir wollen einander nicht fluchen, wir wollen an einander ſchreiben, aber mit einander leben können wir nicht länger.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0129"n="111"/><divn="2"><head><hirendition="#g">Ich</hi>.<lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><hirendition="#g">Fragment einer Bildungsgeſchichte</hi>.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Mein ſogenannter Vater, welcher den häusli-<lb/>
lichen Unfrieden, von dem ich die unſchuldige Ur-<lb/>ſache war, nicht länger ertragen konnte, ſagte zu<lb/>
meiner angeblichen Mutter: Desdemona, es muß<lb/>
geſchieden ſeyn. Ich habe es geduldet, daß du mir<lb/>
täglich einige und dreißigmal ſagteſt, du ſeieſt meine<lb/>
Gattin nicht aus Liebe zu mir, ſondern aus Achtung<lb/>
für meinen ſeligen Vater, den Lügner, geworden;<lb/>
geduldet ſechszehn Jahre und neun Monate lang, aber<lb/>
daß du dieſen armen Wurm, den ich mir habe ſauer<lb/>
genug werden laſſen, beſtändig knuffſt, wo du ihn<lb/>ſiehſt, verletzt mein Gefühl allzuſehr. Lebe wohl,<lb/>
Desdemona, wir wollen einander nicht fluchen, wir<lb/>
wollen an einander ſchreiben, aber mit einander<lb/>
leben können wir nicht länger.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[111/0129]
Ich.
Fragment einer Bildungsgeſchichte.
Mein ſogenannter Vater, welcher den häusli-
lichen Unfrieden, von dem ich die unſchuldige Ur-
ſache war, nicht länger ertragen konnte, ſagte zu
meiner angeblichen Mutter: Desdemona, es muß
geſchieden ſeyn. Ich habe es geduldet, daß du mir
täglich einige und dreißigmal ſagteſt, du ſeieſt meine
Gattin nicht aus Liebe zu mir, ſondern aus Achtung
für meinen ſeligen Vater, den Lügner, geworden;
geduldet ſechszehn Jahre und neun Monate lang, aber
daß du dieſen armen Wurm, den ich mir habe ſauer
genug werden laſſen, beſtändig knuffſt, wo du ihn
ſiehſt, verletzt mein Gefühl allzuſehr. Lebe wohl,
Desdemona, wir wollen einander nicht fluchen, wir
wollen an einander ſchreiben, aber mit einander
leben können wir nicht länger.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 2. Düsseldorf, 1839, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen02_1839/129>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.