weigert werden durfte; auch konnte er in sofern für geheilt erklärt werden, als er schon seit einer Reihe von Monaten von seinem Wahn gänzlich befreit und in eine geistige und körperliche Verfassung versetzt war, welche ihn zum Betriebe seines Handwerks vollständig befähigte. Ob aber bei der vor¬ herrschenden Passivität seines Charakters und seiner immer noch zur Schwärmerei sehr hinneigenden Frömmigkeit seine Heilung eine für das ganze Leben andauernde sein werde, muß die Folgezeit lehren.
2.
W., 45 Jahre alt, der Sohn eines Schuhmachers in Stadt am Hof, erhielt von ihm eine angemessene Erziehung, erlernte nach der Einsegnung das Schneiderhandwerk, und trat hierauf seine Wanderschaft an, welche ihn zuletzt nach Ber¬ lin führte, woselbst er sich vor 23 Jahren ansiedelte, zuerst als Geselle arbeitete, später als Meister sich einrichtete, und nachdem seine erste Frau, welche ihm in mehrjähriger glückli¬ cher Ehe 4 Kinder geboren hatte, gestorben war, sich mit einer Jugendfreundin verheirathete, mit welcher er in gleich¬ falls glücklicher, kinderloser Ehe lebte. Wir überspringen alle diese Verhältnisse, weil sie zur Entwickelung seines späteren religiösen Wahns nichts beitrugen, mit der Bemerkung, daß er stets gesund, heiter und kräftig von Gemüth war, und daß er seiner ganzen Erscheinung nach jenen ehrbaren, fleißi¬ gen und redlichen Handwerkern angehört, welche in der Be¬ schränktheit kleinbürgerlicher Verhältnisse eine hinreichende Be¬ friedigung gemäßigter Wünsche finden, um mit jedem An¬ triebe mächtiger Leidenschaft für immer verschont zu bleiben, wenn ihnen dieselben nicht im Widerspruch mit ihrem Natu¬ rell eingeimpft werden. Zur religiösen Schwärmerei neigte er so wenig hin, daß er nur selten am Gottesdienste Theil nahm, und sich auch außerdem nicht vielen Andachtsübungen hingab.
Im Jahre 1842 theilte ihm ein Mitglied der hier be¬ stehenden Secte der Wiedertäufer mehrere Missionsblätter und Traktätchen mit, wodurch er sich bestimmen ließ, den gottes¬
weigert werden durfte; auch konnte er in ſofern fuͤr geheilt erklaͤrt werden, als er ſchon ſeit einer Reihe von Monaten von ſeinem Wahn gaͤnzlich befreit und in eine geiſtige und koͤrperliche Verfaſſung verſetzt war, welche ihn zum Betriebe ſeines Handwerks vollſtaͤndig befaͤhigte. Ob aber bei der vor¬ herrſchenden Paſſivitaͤt ſeines Charakters und ſeiner immer noch zur Schwaͤrmerei ſehr hinneigenden Froͤmmigkeit ſeine Heilung eine fuͤr das ganze Leben andauernde ſein werde, muß die Folgezeit lehren.
2.
W., 45 Jahre alt, der Sohn eines Schuhmachers in Stadt am Hof, erhielt von ihm eine angemeſſene Erziehung, erlernte nach der Einſegnung das Schneiderhandwerk, und trat hierauf ſeine Wanderſchaft an, welche ihn zuletzt nach Ber¬ lin fuͤhrte, woſelbſt er ſich vor 23 Jahren anſiedelte, zuerſt als Geſelle arbeitete, ſpaͤter als Meiſter ſich einrichtete, und nachdem ſeine erſte Frau, welche ihm in mehrjaͤhriger gluͤckli¬ cher Ehe 4 Kinder geboren hatte, geſtorben war, ſich mit einer Jugendfreundin verheirathete, mit welcher er in gleich¬ falls gluͤcklicher, kinderloſer Ehe lebte. Wir uͤberſpringen alle dieſe Verhaͤltniſſe, weil ſie zur Entwickelung ſeines ſpaͤteren religioͤſen Wahns nichts beitrugen, mit der Bemerkung, daß er ſtets geſund, heiter und kraͤftig von Gemuͤth war, und daß er ſeiner ganzen Erſcheinung nach jenen ehrbaren, fleißi¬ gen und redlichen Handwerkern angehoͤrt, welche in der Be¬ ſchraͤnktheit kleinbuͤrgerlicher Verhaͤltniſſe eine hinreichende Be¬ friedigung gemaͤßigter Wuͤnſche finden, um mit jedem An¬ triebe maͤchtiger Leidenſchaft fuͤr immer verſchont zu bleiben, wenn ihnen dieſelben nicht im Widerſpruch mit ihrem Natu¬ rell eingeimpft werden. Zur religioͤſen Schwaͤrmerei neigte er ſo wenig hin, daß er nur ſelten am Gottesdienſte Theil nahm, und ſich auch außerdem nicht vielen Andachtsuͤbungen hingab.
Im Jahre 1842 theilte ihm ein Mitglied der hier be¬ ſtehenden Secte der Wiedertaͤufer mehrere Miſſionsblaͤtter und Traktaͤtchen mit, wodurch er ſich beſtimmen ließ, den gottes¬
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[43/0051]
weigert werden durfte; auch konnte er in ſofern fuͤr geheilt
erklaͤrt werden, als er ſchon ſeit einer Reihe von Monaten
von ſeinem Wahn gaͤnzlich befreit und in eine geiſtige und
koͤrperliche Verfaſſung verſetzt war, welche ihn zum Betriebe
ſeines Handwerks vollſtaͤndig befaͤhigte. Ob aber bei der vor¬
herrſchenden Paſſivitaͤt ſeines Charakters und ſeiner immer
noch zur Schwaͤrmerei ſehr hinneigenden Froͤmmigkeit ſeine
Heilung eine fuͤr das ganze Leben andauernde ſein werde,
muß die Folgezeit lehren.
2.
W., 45 Jahre alt, der Sohn eines Schuhmachers in
Stadt am Hof, erhielt von ihm eine angemeſſene Erziehung,
erlernte nach der Einſegnung das Schneiderhandwerk, und trat
hierauf ſeine Wanderſchaft an, welche ihn zuletzt nach Ber¬
lin fuͤhrte, woſelbſt er ſich vor 23 Jahren anſiedelte, zuerſt
als Geſelle arbeitete, ſpaͤter als Meiſter ſich einrichtete, und
nachdem ſeine erſte Frau, welche ihm in mehrjaͤhriger gluͤckli¬
cher Ehe 4 Kinder geboren hatte, geſtorben war, ſich mit
einer Jugendfreundin verheirathete, mit welcher er in gleich¬
falls gluͤcklicher, kinderloſer Ehe lebte. Wir uͤberſpringen alle
dieſe Verhaͤltniſſe, weil ſie zur Entwickelung ſeines ſpaͤteren
religioͤſen Wahns nichts beitrugen, mit der Bemerkung, daß
er ſtets geſund, heiter und kraͤftig von Gemuͤth war, und
daß er ſeiner ganzen Erſcheinung nach jenen ehrbaren, fleißi¬
gen und redlichen Handwerkern angehoͤrt, welche in der Be¬
ſchraͤnktheit kleinbuͤrgerlicher Verhaͤltniſſe eine hinreichende Be¬
friedigung gemaͤßigter Wuͤnſche finden, um mit jedem An¬
triebe maͤchtiger Leidenſchaft fuͤr immer verſchont zu bleiben,
wenn ihnen dieſelben nicht im Widerſpruch mit ihrem Natu¬
rell eingeimpft werden. Zur religioͤſen Schwaͤrmerei neigte er
ſo wenig hin, daß er nur ſelten am Gottesdienſte Theil nahm,
und ſich auch außerdem nicht vielen Andachtsuͤbungen hingab.
Im Jahre 1842 theilte ihm ein Mitglied der hier be¬
ſtehenden Secte der Wiedertaͤufer mehrere Miſſionsblaͤtter und
Traktaͤtchen mit, wodurch er ſich beſtimmen ließ, den gottes¬
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/51>, abgerufen am 23.02.2025.
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