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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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R., im Jahre 1813 geboren, der Sohn eines Zimmer¬
manns in Potsdam, wurde seit seiner frühesten Kindheit durch
ein hartnäckiges Skrofelleiden, welches namentlich auch eine
bis in das 16te Jahr fortdauernde Augenentzündung zur
Folge hatte, dergestalt in seiner Lebensentwickelung zurückge¬
halten, daß er sich stets schwach und elend fühlte, niemals
zum Frohsinn und kindlichen Spielen aufgelegt war, sondern
stets ernst und schwermüthig gestimmt blieb. Der Vater, ein
Trunkenbold, mißhandelte häufig die Kinder, und entzweite
sich darüber mit seiner Ehefrau, welche aus stetem Aerger und
Kummer in Epilepsie verfiel, deren oft widerkehrende Anfälle
zuletzt ihren Verstand zerrütteten, und nach 16jährigen Lei¬
den ihrem Leben ein Ziel setzten. Durch das langjährige
Augenübel meistentheils vom Schulbesuche zurückgehalten, konnte
R. sich nur die nothwendigsten Elementarkenntnisse aneignen;
einen tiefen Eindruck machte jedoch der Religionsunterricht
auf seinen weichen und empfänglichen Sinn, so daß er na¬
mentlich die Unsittlichkeit anderer Knaben, welche den Pre¬
diger heimlich verhöhnten und nachäfften, mit lebhaftem Un¬
willen empfand, und bei den häufig wiederkehrenden schweren
Leiden seiner Mutter in inbrünstigem Gebet Gott um ihre
Besserung von denselben anflehte. Alles dies wirkte zusam¬
men, ihm eine immer mehr zunehmende Schüchternheit und
Aengstlichkeit einzuflößen, wozu unstreitig ein täglich wieder¬
kehrendes, oft bedeutendes Nasenbluten wesentlich beitrug,
welches vom 16. bis zum 25. Jahre anhielt, häufig von hef¬
tigem Herzklopfen begleitet war, zumal bei Gemüthsbewegun¬
gen, und zuweilen mit Kopfschmerzen abwechselte. Er fühlte
sich oft so schwach, daß er auf der Straße hinzufallen fürch¬
tete, wurde bei Todesanzeigen von Zittern und Furcht vor
seinem nahen Ende befallen, und in stets trüber und ver¬

1.

R., im Jahre 1813 geboren, der Sohn eines Zimmer¬
manns in Potsdam, wurde ſeit ſeiner fruͤheſten Kindheit durch
ein hartnaͤckiges Skrofelleiden, welches namentlich auch eine
bis in das 16te Jahr fortdauernde Augenentzuͤndung zur
Folge hatte, dergeſtalt in ſeiner Lebensentwickelung zuruͤckge¬
halten, daß er ſich ſtets ſchwach und elend fuͤhlte, niemals
zum Frohſinn und kindlichen Spielen aufgelegt war, ſondern
ſtets ernſt und ſchwermuͤthig geſtimmt blieb. Der Vater, ein
Trunkenbold, mißhandelte haͤufig die Kinder, und entzweite
ſich daruͤber mit ſeiner Ehefrau, welche aus ſtetem Aerger und
Kummer in Epilepſie verfiel, deren oft widerkehrende Anfaͤlle
zuletzt ihren Verſtand zerruͤtteten, und nach 16jaͤhrigen Lei¬
den ihrem Leben ein Ziel ſetzten. Durch das langjaͤhrige
Augenuͤbel meiſtentheils vom Schulbeſuche zuruͤckgehalten, konnte
R. ſich nur die nothwendigſten Elementarkenntniſſe aneignen;
einen tiefen Eindruck machte jedoch der Religionsunterricht
auf ſeinen weichen und empfaͤnglichen Sinn, ſo daß er na¬
mentlich die Unſittlichkeit anderer Knaben, welche den Pre¬
diger heimlich verhoͤhnten und nachaͤfften, mit lebhaftem Un¬
willen empfand, und bei den haͤufig wiederkehrenden ſchweren
Leiden ſeiner Mutter in inbruͤnſtigem Gebet Gott um ihre
Beſſerung von denſelben anflehte. Alles dies wirkte zuſam¬
men, ihm eine immer mehr zunehmende Schuͤchternheit und
Aengſtlichkeit einzufloͤßen, wozu unſtreitig ein taͤglich wieder¬
kehrendes, oft bedeutendes Naſenbluten weſentlich beitrug,
welches vom 16. bis zum 25. Jahre anhielt, haͤufig von hef¬
tigem Herzklopfen begleitet war, zumal bei Gemuͤthsbewegun¬
gen, und zuweilen mit Kopfſchmerzen abwechſelte. Er fuͤhlte
ſich oft ſo ſchwach, daß er auf der Straße hinzufallen fuͤrch¬
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[[27]/0035] 1. R., im Jahre 1813 geboren, der Sohn eines Zimmer¬ manns in Potsdam, wurde ſeit ſeiner fruͤheſten Kindheit durch ein hartnaͤckiges Skrofelleiden, welches namentlich auch eine bis in das 16te Jahr fortdauernde Augenentzuͤndung zur Folge hatte, dergeſtalt in ſeiner Lebensentwickelung zuruͤckge¬ halten, daß er ſich ſtets ſchwach und elend fuͤhlte, niemals zum Frohſinn und kindlichen Spielen aufgelegt war, ſondern ſtets ernſt und ſchwermuͤthig geſtimmt blieb. Der Vater, ein Trunkenbold, mißhandelte haͤufig die Kinder, und entzweite ſich daruͤber mit ſeiner Ehefrau, welche aus ſtetem Aerger und Kummer in Epilepſie verfiel, deren oft widerkehrende Anfaͤlle zuletzt ihren Verſtand zerruͤtteten, und nach 16jaͤhrigen Lei¬ den ihrem Leben ein Ziel ſetzten. Durch das langjaͤhrige Augenuͤbel meiſtentheils vom Schulbeſuche zuruͤckgehalten, konnte R. ſich nur die nothwendigſten Elementarkenntniſſe aneignen; einen tiefen Eindruck machte jedoch der Religionsunterricht auf ſeinen weichen und empfaͤnglichen Sinn, ſo daß er na¬ mentlich die Unſittlichkeit anderer Knaben, welche den Pre¬ diger heimlich verhoͤhnten und nachaͤfften, mit lebhaftem Un¬ willen empfand, und bei den haͤufig wiederkehrenden ſchweren Leiden ſeiner Mutter in inbruͤnſtigem Gebet Gott um ihre Beſſerung von denſelben anflehte. Alles dies wirkte zuſam¬ men, ihm eine immer mehr zunehmende Schuͤchternheit und Aengſtlichkeit einzufloͤßen, wozu unſtreitig ein taͤglich wieder¬ kehrendes, oft bedeutendes Naſenbluten weſentlich beitrug, welches vom 16. bis zum 25. Jahre anhielt, haͤufig von hef¬ tigem Herzklopfen begleitet war, zumal bei Gemuͤthsbewegun¬ gen, und zuweilen mit Kopfſchmerzen abwechſelte. Er fuͤhlte ſich oft ſo ſchwach, daß er auf der Straße hinzufallen fuͤrch¬ tete, wurde bei Todesanzeigen von Zittern und Furcht vor ſeinem nahen Ende befallen, und in ſtets truͤber und ver¬

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. [27]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/35>, abgerufen am 21.11.2024.