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Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin, 1826. S. 161-188.

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willkührlich gewählten Zeichen haben ebensowenig, als die der Buchstaben, etwas, das den Geist zu zerstreuen vermöchte, und die innere Gesetzmäßigkeit ihrer Bildung führt das Denken auf sich selbst zurück.

Dennoch wirkt auch eine solche Schrift gerade der idealen, d. h. der die Außenwelt in Ideen verwandelnden Natur der Sprache entgegen, wenn sie auch nach der strengsten Gesetzmäßigkeit in allen ihren Theilen zusammengefügt wäre. Denn für die Sprache ist nicht bloß die sinnliche Erscheinung stoffartig, sondern auch das unbestimmte Denken, inwiefern es nicht fest und rein durch den Ton gebunden ist; denn es ermangelt der ihr wesentlich eigenthümlichen Form. Die Individualität der Wörter, in deren jedem immer noch etwas anderes, als bloß seine logische Definition liegt, ist insofern an den Ton geheftet, als durch diesen unmittelbar in der Seele die ihnen eigenthümliche Wirkung geweckt wird. Ein Zeichen, das den Begriff aufsucht, und den Ton vernachlässigt, kann sie mithin nur unvollkommen ausdrücken. Ein System solcher Zeichen giebt nur die abgezogenen Begriffe der äußeren und inneren Welt wieder; die Sprache aber soll diese Welt selbst, zwar in Gedankenzeichen verwandelt, aber in der ganzen Fülle ihrer reichen, bunten und lebendigen Mannigfaltigkeit enthalten.

Es hat aber auch nie eine Begriffsschrift gegeben, und kann keine geben, die rein nach Begriffen gebildet wäre, und auf die nicht die in bestimmte Laute gefaßten Wörter der Sprache, für welche sie erfunden wurde, den hauptsächlichsten Einfluß ausgeübt hätten. Denn da die Sprache doch vor der Schrift da ist, so sucht dieselbe natürlich für jedes Wort ein Zeichen, und nimmt diese, wenn sie auch durch systematische Unterordnung unter ein Begriffssystem vom Laut unabhängige Geltung hätten, doch in dem Sinn der ihnen untergelegten Wörter. Daher ist jede Begriffsschrift immer zugleich eine Lautschrift, und ob sie, nebenher und in welchem Grade, auch als wahre Begriffsschrift gilt? hangt von dem Grade ab, in welchem der sie Gebrauchende die systematische Unterordnung ihrer Zeichen, den logischen Schlüssel ihrer Bildung, kennt und beachtet. Wer die den Wörtern entsprechenden Zeichen nur mechanisch kennt, besitzt in ihr nichts, als eine Lautschrift. Wenn eine solche Schrift auf eine andere Sprache übergeht, findet der gleiche Fall statt. Denn auch in dieser muß der Gebrauch,

willkührlich gewählten Zeichen haben ebensowenig, als die der Buchstaben, etwas, das den Geist zu zerstreuen vermöchte, und die innere Gesetzmäßigkeit ihrer Bildung führt das Denken auf sich selbst zurück.

Dennoch wirkt auch eine solche Schrift gerade der idealen, d. h. der die Außenwelt in Ideen verwandelnden Natur der Sprache entgegen, wenn sie auch nach der strengsten Gesetzmäßigkeit in allen ihren Theilen zusammengefügt wäre. Denn für die Sprache ist nicht bloß die sinnliche Erscheinung stoffartig, sondern auch das unbestimmte Denken, inwiefern es nicht fest und rein durch den Ton gebunden ist; denn es ermangelt der ihr wesentlich eigenthümlichen Form. Die Individualität der Wörter, in deren jedem immer noch etwas anderes, als bloß seine logische Definition liegt, ist insofern an den Ton geheftet, als durch diesen unmittelbar in der Seele die ihnen eigenthümliche Wirkung geweckt wird. Ein Zeichen, das den Begriff aufsucht, und den Ton vernachlässigt, kann sie mithin nur unvollkommen ausdrücken. Ein System solcher Zeichen giebt nur die abgezogenen Begriffe der äußeren und inneren Welt wieder; die Sprache aber soll diese Welt selbst, zwar in Gedankenzeichen verwandelt, aber in der ganzen Fülle ihrer reichen, bunten und lebendigen Mannigfaltigkeit enthalten.

Es hat aber auch nie eine Begriffsschrift gegeben, und kann keine geben, die rein nach Begriffen gebildet wäre, und auf die nicht die in bestimmte Laute gefaßten Wörter der Sprache, für welche sie erfunden wurde, den hauptsächlichsten Einfluß ausgeübt hätten. Denn da die Sprache doch vor der Schrift da ist, so sucht dieselbe natürlich für jedes Wort ein Zeichen, und nimmt diese, wenn sie auch durch systematische Unterordnung unter ein Begriffssystem vom Laut unabhängige Geltung hätten, doch in dem Sinn der ihnen untergelegten Wörter. Daher ist jede Begriffsschrift immer zugleich eine Lautschrift, und ob sie, nebenher und in welchem Grade, auch als wahre Begriffsschrift gilt? hangt von dem Grade ab, in welchem der sie Gebrauchende die systematische Unterordnung ihrer Zeichen, den logischen Schlüssel ihrer Bildung, kennt und beachtet. Wer die den Wörtern entsprechenden Zeichen nur mechanisch kennt, besitzt in ihr nichts, als eine Lautschrift. Wenn eine solche Schrift auf eine andere Sprache übergeht, findet der gleiche Fall statt. Denn auch in dieser muß der Gebrauch,

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[166/0006] willkührlich gewählten Zeichen haben ebensowenig, als die der Buchstaben, etwas, das den Geist zu zerstreuen vermöchte, und die innere Gesetzmäßigkeit ihrer Bildung führt das Denken auf sich selbst zurück. Dennoch wirkt auch eine solche Schrift gerade der idealen, d. h. der die Außenwelt in Ideen verwandelnden Natur der Sprache entgegen, wenn sie auch nach der strengsten Gesetzmäßigkeit in allen ihren Theilen zusammengefügt wäre. Denn für die Sprache ist nicht bloß die sinnliche Erscheinung stoffartig, sondern auch das unbestimmte Denken, inwiefern es nicht fest und rein durch den Ton gebunden ist; denn es ermangelt der ihr wesentlich eigenthümlichen Form. Die Individualität der Wörter, in deren jedem immer noch etwas anderes, als bloß seine logische Definition liegt, ist insofern an den Ton geheftet, als durch diesen unmittelbar in der Seele die ihnen eigenthümliche Wirkung geweckt wird. Ein Zeichen, das den Begriff aufsucht, und den Ton vernachlässigt, kann sie mithin nur unvollkommen ausdrücken. Ein System solcher Zeichen giebt nur die abgezogenen Begriffe der äußeren und inneren Welt wieder; die Sprache aber soll diese Welt selbst, zwar in Gedankenzeichen verwandelt, aber in der ganzen Fülle ihrer reichen, bunten und lebendigen Mannigfaltigkeit enthalten. Es hat aber auch nie eine Begriffsschrift gegeben, und kann keine geben, die rein nach Begriffen gebildet wäre, und auf die nicht die in bestimmte Laute gefaßten Wörter der Sprache, für welche sie erfunden wurde, den hauptsächlichsten Einfluß ausgeübt hätten. Denn da die Sprache doch vor der Schrift da ist, so sucht dieselbe natürlich für jedes Wort ein Zeichen, und nimmt diese, wenn sie auch durch systematische Unterordnung unter ein Begriffssystem vom Laut unabhängige Geltung hätten, doch in dem Sinn der ihnen untergelegten Wörter. Daher ist jede Begriffsschrift immer zugleich eine Lautschrift, und ob sie, nebenher und in welchem Grade, auch als wahre Begriffsschrift gilt? hangt von dem Grade ab, in welchem der sie Gebrauchende die systematische Unterordnung ihrer Zeichen, den logischen Schlüssel ihrer Bildung, kennt und beachtet. Wer die den Wörtern entsprechenden Zeichen nur mechanisch kennt, besitzt in ihr nichts, als eine Lautschrift. Wenn eine solche Schrift auf eine andere Sprache übergeht, findet der gleiche Fall statt. Denn auch in dieser muß der Gebrauch,

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin, 1826. S. 161-188, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_sprachbau_1826/6>, abgerufen am 26.04.2024.