Am 10. Mai. In der Nacht war unsere Piroge ge- laden worden, und wir schifften uns etwas vor Sonnenauf- gang ein, um wieder den Rio Negro bis zur Mündung des Cassiquiare hinaufzufahren und den wahren Lauf dieses Flusses, der Orinoko und Amazonenstrom verbindet, zu untersuchen. Der Morgen war schön; aber mit der steigenden Wärme fing auch der Himmel an sich zu bewölken. Die Luft ist in diesen Wäldern so mit Wasser gesättigt, daß, sobald die Verdunstung an der Oberfläche des Bodens auch noch so wenig zunimmt, die Dunstbläschen sichtbar werden. Da der Ostwind fast niemals zu spüren ist, so werden die feuchten Schichten nicht durch trockenere Luft ersetzt. Dieser bedeckte Himmel machte uns mit jedem Tage verdrießlicher. Bonpland verdarben bei der übermäßigen Feuchtigkeit seine gesammelten Pflanzen und ich besorgte auch im Thal des Cassiquiare das trübe Wetter des Rio Negro anzutreffen. Seit einem halben Jahrhundert zwei- felte kein Mensch in diesen Missionen mehr daran, daß hier wirklich zwei große Stromsysteme miteinander in Verbindung stehen; der Hauptzweck unserer Flußfahrt beschränkte sich also darauf, mittels astronomischer Beobachtungen den Lauf des Cassiquiare aufzunehmen, besonders den Punkt, wo er in den Rio Negro tritt, und den anderen, wo der Orinoko sich gabelt. Waren weder Sonne noch Sterne sichtbar, so war dieser Zweck nicht zu erreichen und wir hatten uns vergeblich langen, schweren Mühseligkeiten unterzogen. Unsere Reisegefährten wären gern auf dem kürzesten Wege über den Pimichin und die kleinen Flüsse heimgekehrt; aber Bonpland beharrte mit mir auf dem Reiseplane, den wir auf der Fahrt durch die großen Katarakte entworfen. Bereits hatten wir von San Fernando de Apure nach San Carlos (über den Apure,
Vierundzwanzigſtes Kapitel.
Der Caſſiquiare — Gabelteilung des Orinoko.
Am 10. Mai. In der Nacht war unſere Piroge ge- laden worden, und wir ſchifften uns etwas vor Sonnenauf- gang ein, um wieder den Rio Negro bis zur Mündung des Caſſiquiare hinaufzufahren und den wahren Lauf dieſes Fluſſes, der Orinoko und Amazonenſtrom verbindet, zu unterſuchen. Der Morgen war ſchön; aber mit der ſteigenden Wärme fing auch der Himmel an ſich zu bewölken. Die Luft iſt in dieſen Wäldern ſo mit Waſſer geſättigt, daß, ſobald die Verdunſtung an der Oberfläche des Bodens auch noch ſo wenig zunimmt, die Dunſtbläschen ſichtbar werden. Da der Oſtwind faſt niemals zu ſpüren iſt, ſo werden die feuchten Schichten nicht durch trockenere Luft erſetzt. Dieſer bedeckte Himmel machte uns mit jedem Tage verdrießlicher. Bonpland verdarben bei der übermäßigen Feuchtigkeit ſeine geſammelten Pflanzen und ich beſorgte auch im Thal des Caſſiquiare das trübe Wetter des Rio Negro anzutreffen. Seit einem halben Jahrhundert zwei- felte kein Menſch in dieſen Miſſionen mehr daran, daß hier wirklich zwei große Stromſyſteme miteinander in Verbindung ſtehen; der Hauptzweck unſerer Flußfahrt beſchränkte ſich alſo darauf, mittels aſtronomiſcher Beobachtungen den Lauf des Caſſiquiare aufzunehmen, beſonders den Punkt, wo er in den Rio Negro tritt, und den anderen, wo der Orinoko ſich gabelt. Waren weder Sonne noch Sterne ſichtbar, ſo war dieſer Zweck nicht zu erreichen und wir hatten uns vergeblich langen, ſchweren Mühſeligkeiten unterzogen. Unſere Reiſegefährten wären gern auf dem kürzeſten Wege über den Pimichin und die kleinen Flüſſe heimgekehrt; aber Bonpland beharrte mit mir auf dem Reiſeplane, den wir auf der Fahrt durch die großen Katarakte entworfen. Bereits hatten wir von San Fernando de Apure nach San Carlos (über den Apure,
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Vierundzwanzigſtes Kapitel.
Der Caſſiquiare — Gabelteilung des Orinoko.
Am 10. Mai. In der Nacht war unſere Piroge ge-
laden worden, und wir ſchifften uns etwas vor Sonnenauf-
gang ein, um wieder den Rio Negro bis zur Mündung des
Caſſiquiare hinaufzufahren und den wahren Lauf dieſes Fluſſes,
der Orinoko und Amazonenſtrom verbindet, zu unterſuchen. Der
Morgen war ſchön; aber mit der ſteigenden Wärme fing auch der
Himmel an ſich zu bewölken. Die Luft iſt in dieſen Wäldern
ſo mit Waſſer geſättigt, daß, ſobald die Verdunſtung an der
Oberfläche des Bodens auch noch ſo wenig zunimmt, die
Dunſtbläschen ſichtbar werden. Da der Oſtwind faſt niemals
zu ſpüren iſt, ſo werden die feuchten Schichten nicht durch
trockenere Luft erſetzt. Dieſer bedeckte Himmel machte uns
mit jedem Tage verdrießlicher. Bonpland verdarben bei der
übermäßigen Feuchtigkeit ſeine geſammelten Pflanzen und ich
beſorgte auch im Thal des Caſſiquiare das trübe Wetter des
Rio Negro anzutreffen. Seit einem halben Jahrhundert zwei-
felte kein Menſch in dieſen Miſſionen mehr daran, daß hier
wirklich zwei große Stromſyſteme miteinander in Verbindung
ſtehen; der Hauptzweck unſerer Flußfahrt beſchränkte ſich alſo
darauf, mittels aſtronomiſcher Beobachtungen den Lauf des
Caſſiquiare aufzunehmen, beſonders den Punkt, wo er in den
Rio Negro tritt, und den anderen, wo der Orinoko ſich gabelt.
Waren weder Sonne noch Sterne ſichtbar, ſo war dieſer Zweck
nicht zu erreichen und wir hatten uns vergeblich langen,
ſchweren Mühſeligkeiten unterzogen. Unſere Reiſegefährten
wären gern auf dem kürzeſten Wege über den Pimichin und
die kleinen Flüſſe heimgekehrt; aber Bonpland beharrte mit
mir auf dem Reiſeplane, den wir auf der Fahrt durch die
großen Katarakte entworfen. Bereits hatten wir von San
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/11>, abgerufen am 03.03.2025.
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