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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Nennzehntes Kapitel.

Zusammenfluß des Apure mit dem Orinoko. -- Die Gebirge von
Encaramada. -- Uruana. -- Baraguan. -- Carichana. -- Der Einfluß
des Meta. -- Die Insel Panumana.

Mit der Ausfahrt aus dem Apure sahen wir uns in ein
ganz anderes Land versetzt. So weit das Auge reichte, dehnte
sich eine ungeheure Wasserfläche, einem See gleich, vor uns
aus. Das durchdringende Geschrei der Reiher, Flamingo
und Löffelgänse, wenn sie in langen Schwärmen von einem
Ufer zum anderen ziehen, erfüllte nicht mehr die Luft. Ver-
geblich sahen wir uns nach den Schwimmvögeln um, deren
gewerbsmäßige Listen bei jeder Sippe wieder andere sind.
Die ganze Natur schien weniger belebt. Kaum bemerkten wir
in den Buchten der Wellen hie und da ein großes Krokodil,
das mittels seines Schwanzes die bewegte Wasserfläche schief
durchschnitt. Der Horizont war von einem Waldgürtel be-
grenzt, aber nirgends traten die Wälder bis ans Strombett
vor. Breite, beständig der Sonnenglut ausgesetzte Ufer, kahl
und dürr wie der Meeresstrand, glichen infolge der Luft-
spiegelung von weitem Lachen stehenden Wassers. Diese san-
digen Ufer verwischten vielmehr die Grenzen des Stromes,
statt sie für das Auge festzustellen; nach dem wechselnden
Spiel der Strahlenbrechung rückten die Ufer bald nahe heran,
bald wieder weit weg.

Diese zerstreuten Landschaftszüge, dieses Gepräge von
Einsamkeit und Großartigkeit kennzeichnen den Lauf des Ori-
noko, eines der gewaltigsten Ströme der Neuen Welt. Aller-
orten haben die Gewässer wie das Land ihren eigentümlichen,
individuellen Charakter. Das Bett des Orinoko ist ganz anders
als die Betten des Meta, des Guaviare, des Rio Negro und
des Amazonenstromes. Diese Unterschiede rühren nicht bloß
von der Breite und der Geschwindigkeit des Stromes her;

Nennzehntes Kapitel.

Zuſammenfluß des Apure mit dem Orinoko. — Die Gebirge von
Encaramada. — Uruana. — Baraguan. — Carichana. — Der Einfluß
des Meta. — Die Inſel Panumana.

Mit der Ausfahrt aus dem Apure ſahen wir uns in ein
ganz anderes Land verſetzt. So weit das Auge reichte, dehnte
ſich eine ungeheure Waſſerfläche, einem See gleich, vor uns
aus. Das durchdringende Geſchrei der Reiher, Flamingo
und Löffelgänſe, wenn ſie in langen Schwärmen von einem
Ufer zum anderen ziehen, erfüllte nicht mehr die Luft. Ver-
geblich ſahen wir uns nach den Schwimmvögeln um, deren
gewerbsmäßige Liſten bei jeder Sippe wieder andere ſind.
Die ganze Natur ſchien weniger belebt. Kaum bemerkten wir
in den Buchten der Wellen hie und da ein großes Krokodil,
das mittels ſeines Schwanzes die bewegte Waſſerfläche ſchief
durchſchnitt. Der Horizont war von einem Waldgürtel be-
grenzt, aber nirgends traten die Wälder bis ans Strombett
vor. Breite, beſtändig der Sonnenglut ausgeſetzte Ufer, kahl
und dürr wie der Meeresſtrand, glichen infolge der Luft-
ſpiegelung von weitem Lachen ſtehenden Waſſers. Dieſe ſan-
digen Ufer verwiſchten vielmehr die Grenzen des Stromes,
ſtatt ſie für das Auge feſtzuſtellen; nach dem wechſelnden
Spiel der Strahlenbrechung rückten die Ufer bald nahe heran,
bald wieder weit weg.

Dieſe zerſtreuten Landſchaftszüge, dieſes Gepräge von
Einſamkeit und Großartigkeit kennzeichnen den Lauf des Ori-
noko, eines der gewaltigſten Ströme der Neuen Welt. Aller-
orten haben die Gewäſſer wie das Land ihren eigentümlichen,
individuellen Charakter. Das Bett des Orinoko iſt ganz anders
als die Betten des Meta, des Guaviare, des Rio Negro und
des Amazonenſtromes. Dieſe Unterſchiede rühren nicht bloß
von der Breite und der Geſchwindigkeit des Stromes her;

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[[39]/0047] Nennzehntes Kapitel. Zuſammenfluß des Apure mit dem Orinoko. — Die Gebirge von Encaramada. — Uruana. — Baraguan. — Carichana. — Der Einfluß des Meta. — Die Inſel Panumana. Mit der Ausfahrt aus dem Apure ſahen wir uns in ein ganz anderes Land verſetzt. So weit das Auge reichte, dehnte ſich eine ungeheure Waſſerfläche, einem See gleich, vor uns aus. Das durchdringende Geſchrei der Reiher, Flamingo und Löffelgänſe, wenn ſie in langen Schwärmen von einem Ufer zum anderen ziehen, erfüllte nicht mehr die Luft. Ver- geblich ſahen wir uns nach den Schwimmvögeln um, deren gewerbsmäßige Liſten bei jeder Sippe wieder andere ſind. Die ganze Natur ſchien weniger belebt. Kaum bemerkten wir in den Buchten der Wellen hie und da ein großes Krokodil, das mittels ſeines Schwanzes die bewegte Waſſerfläche ſchief durchſchnitt. Der Horizont war von einem Waldgürtel be- grenzt, aber nirgends traten die Wälder bis ans Strombett vor. Breite, beſtändig der Sonnenglut ausgeſetzte Ufer, kahl und dürr wie der Meeresſtrand, glichen infolge der Luft- ſpiegelung von weitem Lachen ſtehenden Waſſers. Dieſe ſan- digen Ufer verwiſchten vielmehr die Grenzen des Stromes, ſtatt ſie für das Auge feſtzuſtellen; nach dem wechſelnden Spiel der Strahlenbrechung rückten die Ufer bald nahe heran, bald wieder weit weg. Dieſe zerſtreuten Landſchaftszüge, dieſes Gepräge von Einſamkeit und Großartigkeit kennzeichnen den Lauf des Ori- noko, eines der gewaltigſten Ströme der Neuen Welt. Aller- orten haben die Gewäſſer wie das Land ihren eigentümlichen, individuellen Charakter. Das Bett des Orinoko iſt ganz anders als die Betten des Meta, des Guaviare, des Rio Negro und des Amazonenſtromes. Dieſe Unterſchiede rühren nicht bloß von der Breite und der Geſchwindigkeit des Stromes her;

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. [39]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/47>, abgerufen am 21.11.2024.