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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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den Orinoko, auf das dringende Gesuch der Franziskaner, ein
paar Haufen indianischer Hütten den vornehmen Titel Ciudad
erteilt. Die Selbstverwaltung der Gemeinden sollte ihrem
Wesen nach eine der Hauptgrundlagen der Freiheit und Gleich-
heit der Bürger sein; aber in den spanischen Kolonieen ist sie
in eine Gemeindearistokratie ausgeartet. Die Leute, welche
die unumschränkte Gewalt in Händen haben, könnten so leicht
den Einfluß von ein paar mächtigen Familien ihren Zwecken
dienstbar machen; statt dessen fürchten sie den sogenannten
Unabhängigkeitsgeist der kleinen Gemeinden. Lieber soll der
Staatskörper gelähmt und kraftlos bleiben, als daß sie Mittel-
punkte der Regsamkeit aufkommen ließen, die sich ihrem Ein-
fluß entziehen, als daß sie der lokalen Lebensthätigkeit, welche
die ganze Masse beseelt, Vorschub leisteten, nur weil diese
Thätigkeit vielmehr vom Volk als von der obersten Gewalt
ausgeht. Zur Zeit Karls V. und Philipps II. wurde die
Munizipalverfassung vom Hofe klugerweise begünstigt. Mächtige
Männer, die bei der Eroberung eine Rolle gespielt, gründeten
Städte und bildeten die ersten Cabildos nach dem Muster
der spanischen; zwischen den Angehörigen des Mutterlandes
und ihren Nachkommen in Amerika bestand damals Rechts-
gleichheit. Die Politik war eben nicht freisinnig, aber doch
nicht so argwöhnisch wie jetzt. Das vor kurzem eroberte und
verheerte Festland wurde als eine ferne Besitzung Spaniens
angesehen. Der Begriff einer Kolonie im heutigen Sinne ent-
wickelte sich erst mit dem modernen System der Handelspolitik,
und diese Politik sah zwar ganz wohl die wahren Quellen
des Nationalreichtums, wurde aber nichtsdestoweniger bald
kleinlich, mißtrauisch, ausschließend. Sie arbeitete auf die
Zwietracht zwischen dem Mutterlande und den Kolonieen hin;
sie brachte unter den Weißen eine Ungleichheit auf, von der
die erste Gesetzgebung für Indien nichts gewußt hatte. All-
mählich wurde durch die Centralisierung der Gewalt der Ein-
fluß der Gemeinden herabgedrückt, und dieselben Cabildos,
denen im 16. und 17. Jahrhundert das Recht zustand, nach
dem Tode eines Statthalters das Land provisorisch zu re-
gieren, galten beim Madrider Hof für gefährliche Hemmnisse
der königlichen Gewalt. Hinfort erhielten die reichsten Dörfer
trotz der Zunahme ihrer Bevölkerung nur sehr schwer den
Stadttitel und das Recht der eigenen Verwaltung. Es ergibt
sich hieraus, daß die neueren Aenderungen in der Kolonial-
politik keineswegs alle sehr philosophisch sind. Man sieht

den Orinoko, auf das dringende Geſuch der Franziskaner, ein
paar Haufen indianiſcher Hütten den vornehmen Titel Ciudad
erteilt. Die Selbſtverwaltung der Gemeinden ſollte ihrem
Weſen nach eine der Hauptgrundlagen der Freiheit und Gleich-
heit der Bürger ſein; aber in den ſpaniſchen Kolonieen iſt ſie
in eine Gemeindeariſtokratie ausgeartet. Die Leute, welche
die unumſchränkte Gewalt in Händen haben, könnten ſo leicht
den Einfluß von ein paar mächtigen Familien ihren Zwecken
dienſtbar machen; ſtatt deſſen fürchten ſie den ſogenannten
Unabhängigkeitsgeiſt der kleinen Gemeinden. Lieber ſoll der
Staatskörper gelähmt und kraftlos bleiben, als daß ſie Mittel-
punkte der Regſamkeit aufkommen ließen, die ſich ihrem Ein-
fluß entziehen, als daß ſie der lokalen Lebensthätigkeit, welche
die ganze Maſſe beſeelt, Vorſchub leiſteten, nur weil dieſe
Thätigkeit vielmehr vom Volk als von der oberſten Gewalt
ausgeht. Zur Zeit Karls V. und Philipps II. wurde die
Munizipalverfaſſung vom Hofe klugerweiſe begünſtigt. Mächtige
Männer, die bei der Eroberung eine Rolle geſpielt, gründeten
Städte und bildeten die erſten Cabildos nach dem Muſter
der ſpaniſchen; zwiſchen den Angehörigen des Mutterlandes
und ihren Nachkommen in Amerika beſtand damals Rechts-
gleichheit. Die Politik war eben nicht freiſinnig, aber doch
nicht ſo argwöhniſch wie jetzt. Das vor kurzem eroberte und
verheerte Feſtland wurde als eine ferne Beſitzung Spaniens
angeſehen. Der Begriff einer Kolonie im heutigen Sinne ent-
wickelte ſich erſt mit dem modernen Syſtem der Handelspolitik,
und dieſe Politik ſah zwar ganz wohl die wahren Quellen
des Nationalreichtums, wurde aber nichtsdeſtoweniger bald
kleinlich, mißtrauiſch, ausſchließend. Sie arbeitete auf die
Zwietracht zwiſchen dem Mutterlande und den Kolonieen hin;
ſie brachte unter den Weißen eine Ungleichheit auf, von der
die erſte Geſetzgebung für Indien nichts gewußt hatte. All-
mählich wurde durch die Centraliſierung der Gewalt der Ein-
fluß der Gemeinden herabgedrückt, und dieſelben Cabildos,
denen im 16. und 17. Jahrhundert das Recht zuſtand, nach
dem Tode eines Statthalters das Land proviſoriſch zu re-
gieren, galten beim Madrider Hof für gefährliche Hemmniſſe
der königlichen Gewalt. Hinfort erhielten die reichſten Dörfer
trotz der Zunahme ihrer Bevölkerung nur ſehr ſchwer den
Stadttitel und das Recht der eigenen Verwaltung. Es ergibt
ſich hieraus, daß die neueren Aenderungen in der Kolonial-
politik keineswegs alle ſehr philoſophiſch ſind. Man ſieht

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[187/0195] den Orinoko, auf das dringende Geſuch der Franziskaner, ein paar Haufen indianiſcher Hütten den vornehmen Titel Ciudad erteilt. Die Selbſtverwaltung der Gemeinden ſollte ihrem Weſen nach eine der Hauptgrundlagen der Freiheit und Gleich- heit der Bürger ſein; aber in den ſpaniſchen Kolonieen iſt ſie in eine Gemeindeariſtokratie ausgeartet. Die Leute, welche die unumſchränkte Gewalt in Händen haben, könnten ſo leicht den Einfluß von ein paar mächtigen Familien ihren Zwecken dienſtbar machen; ſtatt deſſen fürchten ſie den ſogenannten Unabhängigkeitsgeiſt der kleinen Gemeinden. Lieber ſoll der Staatskörper gelähmt und kraftlos bleiben, als daß ſie Mittel- punkte der Regſamkeit aufkommen ließen, die ſich ihrem Ein- fluß entziehen, als daß ſie der lokalen Lebensthätigkeit, welche die ganze Maſſe beſeelt, Vorſchub leiſteten, nur weil dieſe Thätigkeit vielmehr vom Volk als von der oberſten Gewalt ausgeht. Zur Zeit Karls V. und Philipps II. wurde die Munizipalverfaſſung vom Hofe klugerweiſe begünſtigt. Mächtige Männer, die bei der Eroberung eine Rolle geſpielt, gründeten Städte und bildeten die erſten Cabildos nach dem Muſter der ſpaniſchen; zwiſchen den Angehörigen des Mutterlandes und ihren Nachkommen in Amerika beſtand damals Rechts- gleichheit. Die Politik war eben nicht freiſinnig, aber doch nicht ſo argwöhniſch wie jetzt. Das vor kurzem eroberte und verheerte Feſtland wurde als eine ferne Beſitzung Spaniens angeſehen. Der Begriff einer Kolonie im heutigen Sinne ent- wickelte ſich erſt mit dem modernen Syſtem der Handelspolitik, und dieſe Politik ſah zwar ganz wohl die wahren Quellen des Nationalreichtums, wurde aber nichtsdeſtoweniger bald kleinlich, mißtrauiſch, ausſchließend. Sie arbeitete auf die Zwietracht zwiſchen dem Mutterlande und den Kolonieen hin; ſie brachte unter den Weißen eine Ungleichheit auf, von der die erſte Geſetzgebung für Indien nichts gewußt hatte. All- mählich wurde durch die Centraliſierung der Gewalt der Ein- fluß der Gemeinden herabgedrückt, und dieſelben Cabildos, denen im 16. und 17. Jahrhundert das Recht zuſtand, nach dem Tode eines Statthalters das Land proviſoriſch zu re- gieren, galten beim Madrider Hof für gefährliche Hemmniſſe der königlichen Gewalt. Hinfort erhielten die reichſten Dörfer trotz der Zunahme ihrer Bevölkerung nur ſehr ſchwer den Stadttitel und das Recht der eigenen Verwaltung. Es ergibt ſich hieraus, daß die neueren Aenderungen in der Kolonial- politik keineswegs alle ſehr philoſophiſch ſind. Man ſieht

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/195>, abgerufen am 26.04.2024.