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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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Negerin saß vor einer kleinen Hütte aus Rohr und Erde.
Man kannte ihr Alter, weil sie eine Kreolinsklavin war. Sie
schien noch bei ganz guter Gesundheit. "Ich halte sie an der
Sonne (la tingo al sol)," sagte ihr Enkel; "die Wärme er-
hält sie am Leben." Das Mittel kam uns sehr stark vor,
denn die Sonnenstrahlen fielen fast senkrecht nieder. Die
Völker mit dunkler Haut, die gut akklimatisierten Schwarzen
und die Indianer erreichen in der heißen Zone ein hohes,
glückliches Alter. Ich habe anderswo von einem eingeborenen
Peruaner erzählt, der im Alter von 143 Jahren starb und
90 Jahre verheiratet gewesen war.

Don Francisco Montera und sein Bruder, ein junger,
sehr gebildeter Geistlicher, begleiteten uns, um uns in ihr
Haus in Victoria zu bringen. Fast alle Familien, mit denen
wir in Caracas befreundet gewesen waren, die Ustariz, die
Tovars, die Toros, lebten beisammen in den schönen Thälern
von Aragua, wo sie die reichsten Pflanzungen besaßen, und
sie wetteiferten, uns den Aufenthalt angenehm zu machen.
Ehe wir in die Wälder am Orinoko drangen, erfreuten wir
uns noch einmal an allem, was hohe Kultur Schönes und
Gutes bietet.

Der Weg von Mamon nach Victoria läuft von Süd
nach Südwest. Den Tuy, der am Fuße der hohen Berge
von Guayraima eine Biegung nach Ost macht, verloren wir
bald aus dem Gesicht. Man meint im Haslithal im Berner
Oberland zu sein. Die Kalktuffhügel sind nicht mehr als
270 m hoch, fallen aber senkrecht ab und springen wie Vor-
gebirge in die Ebene herein. Ihre Umrisse deuten das
alte Seegestade an. Das östliche Ende des Thales ist
dürr und nicht angebaut; man hat hier die wasserreichen
Schluchten der benachbarten Gebirge nicht benutzt, aber in
der Nähe der Stadt betritt man ein gut bebautes Land. Ich
sage Stadt, obgleich zu meiner Zeit Victoria nur für ein
Dorf (pueblo) galt.

Einen Ort mit 7000 Einwohnern, schönen Gebäuden,
einer Kirche mit dorischen Säulen und dem ganzen Treiben
der Handelsindustrie kann man sich nicht leicht als Dorf
denken. Längst hatten die Einwohner von Victoria den
spanischen Hof um den Titel Villa angegangen und um das
Recht, einen Cabildo, einen Gemeinderat, wählen zu dürfen.
Das spanische Ministerium willfahrte dem Gesuch nicht, und
doch hatte es bei der Expedition Iturriagas und Solanos an

Negerin ſaß vor einer kleinen Hütte aus Rohr und Erde.
Man kannte ihr Alter, weil ſie eine Kreolinſklavin war. Sie
ſchien noch bei ganz guter Geſundheit. „Ich halte ſie an der
Sonne (la tingo al sol),“ ſagte ihr Enkel; „die Wärme er-
hält ſie am Leben.“ Das Mittel kam uns ſehr ſtark vor,
denn die Sonnenſtrahlen fielen faſt ſenkrecht nieder. Die
Völker mit dunkler Haut, die gut akklimatiſierten Schwarzen
und die Indianer erreichen in der heißen Zone ein hohes,
glückliches Alter. Ich habe anderswo von einem eingeborenen
Peruaner erzählt, der im Alter von 143 Jahren ſtarb und
90 Jahre verheiratet geweſen war.

Don Francisco Montera und ſein Bruder, ein junger,
ſehr gebildeter Geiſtlicher, begleiteten uns, um uns in ihr
Haus in Victoria zu bringen. Faſt alle Familien, mit denen
wir in Caracas befreundet geweſen waren, die Uſtariz, die
Tovars, die Toros, lebten beiſammen in den ſchönen Thälern
von Aragua, wo ſie die reichſten Pflanzungen beſaßen, und
ſie wetteiferten, uns den Aufenthalt angenehm zu machen.
Ehe wir in die Wälder am Orinoko drangen, erfreuten wir
uns noch einmal an allem, was hohe Kultur Schönes und
Gutes bietet.

Der Weg von Mamon nach Victoria läuft von Süd
nach Südweſt. Den Tuy, der am Fuße der hohen Berge
von Guayraima eine Biegung nach Oſt macht, verloren wir
bald aus dem Geſicht. Man meint im Haslithal im Berner
Oberland zu ſein. Die Kalktuffhügel ſind nicht mehr als
270 m hoch, fallen aber ſenkrecht ab und ſpringen wie Vor-
gebirge in die Ebene herein. Ihre Umriſſe deuten das
alte Seegeſtade an. Das öſtliche Ende des Thales iſt
dürr und nicht angebaut; man hat hier die waſſerreichen
Schluchten der benachbarten Gebirge nicht benutzt, aber in
der Nähe der Stadt betritt man ein gut bebautes Land. Ich
ſage Stadt, obgleich zu meiner Zeit Victoria nur für ein
Dorf (pueblo) galt.

Einen Ort mit 7000 Einwohnern, ſchönen Gebäuden,
einer Kirche mit doriſchen Säulen und dem ganzen Treiben
der Handelsinduſtrie kann man ſich nicht leicht als Dorf
denken. Längſt hatten die Einwohner von Victoria den
ſpaniſchen Hof um den Titel Villa angegangen und um das
Recht, einen Cabildo, einen Gemeinderat, wählen zu dürfen.
Das ſpaniſche Miniſterium willfahrte dem Geſuch nicht, und
doch hatte es bei der Expedition Iturriagas und Solanos an

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[186/0194] Negerin ſaß vor einer kleinen Hütte aus Rohr und Erde. Man kannte ihr Alter, weil ſie eine Kreolinſklavin war. Sie ſchien noch bei ganz guter Geſundheit. „Ich halte ſie an der Sonne (la tingo al sol),“ ſagte ihr Enkel; „die Wärme er- hält ſie am Leben.“ Das Mittel kam uns ſehr ſtark vor, denn die Sonnenſtrahlen fielen faſt ſenkrecht nieder. Die Völker mit dunkler Haut, die gut akklimatiſierten Schwarzen und die Indianer erreichen in der heißen Zone ein hohes, glückliches Alter. Ich habe anderswo von einem eingeborenen Peruaner erzählt, der im Alter von 143 Jahren ſtarb und 90 Jahre verheiratet geweſen war. Don Francisco Montera und ſein Bruder, ein junger, ſehr gebildeter Geiſtlicher, begleiteten uns, um uns in ihr Haus in Victoria zu bringen. Faſt alle Familien, mit denen wir in Caracas befreundet geweſen waren, die Uſtariz, die Tovars, die Toros, lebten beiſammen in den ſchönen Thälern von Aragua, wo ſie die reichſten Pflanzungen beſaßen, und ſie wetteiferten, uns den Aufenthalt angenehm zu machen. Ehe wir in die Wälder am Orinoko drangen, erfreuten wir uns noch einmal an allem, was hohe Kultur Schönes und Gutes bietet. Der Weg von Mamon nach Victoria läuft von Süd nach Südweſt. Den Tuy, der am Fuße der hohen Berge von Guayraima eine Biegung nach Oſt macht, verloren wir bald aus dem Geſicht. Man meint im Haslithal im Berner Oberland zu ſein. Die Kalktuffhügel ſind nicht mehr als 270 m hoch, fallen aber ſenkrecht ab und ſpringen wie Vor- gebirge in die Ebene herein. Ihre Umriſſe deuten das alte Seegeſtade an. Das öſtliche Ende des Thales iſt dürr und nicht angebaut; man hat hier die waſſerreichen Schluchten der benachbarten Gebirge nicht benutzt, aber in der Nähe der Stadt betritt man ein gut bebautes Land. Ich ſage Stadt, obgleich zu meiner Zeit Victoria nur für ein Dorf (pueblo) galt. Einen Ort mit 7000 Einwohnern, ſchönen Gebäuden, einer Kirche mit doriſchen Säulen und dem ganzen Treiben der Handelsinduſtrie kann man ſich nicht leicht als Dorf denken. Längſt hatten die Einwohner von Victoria den ſpaniſchen Hof um den Titel Villa angegangen und um das Recht, einen Cabildo, einen Gemeinderat, wählen zu dürfen. Das ſpaniſche Miniſterium willfahrte dem Geſuch nicht, und doch hatte es bei der Expedition Iturriagas und Solanos an

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/194>, abgerufen am 26.04.2024.