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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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Achtes Kapitel.

Abreise von Caripe. -- Berg und Wald Santa Maria. -- Die
Mission Catuaro. -- Hafen von Cariaco.

Rasch verflossen uns die Tage, die wir im Kapuziner-
kloster in den Bergen von Caripe zubrachten, und doch war
unser Leben so einfach als einförmig. Von Sonnenaufgang
bis Einbruch der Nacht streiften wir durch die benachbarten
Wälder und Berge, um Pflanzen zu sammeln, deren wir nie
genug beisammen haben konnten. Konnten wir des starken
Regens wegen nicht weit hinaus, so besuchten wir die Hütten
der Indianer, den Gemeindeconuco oder die Versammlungen,
in denen die Alkaden jeden Abend die Arbeiten für den fol-
genden Tag austeilen. Wir kehrten erst ins Kloster zurück,
wenn uns die Glocke ins Refektorium an den Tisch der Mis-
sionäre rief. Zuweilen gingen wir mit ihnen frühmorgens
in die Kirche, um der "Doctrina" beizuwohnen, das heißt
dem Religionsunterricht der Eingeborenen. Es ist ein zum
wenigsten sehr gewagtes Unternehmen, mit Neubekehrten über
Dogmen zu verhandeln, zumal wenn sie des Spanischen nur
in geringem Grade mächtig sind. Andererseits verstehen gegen-
wärtig die Ordensleute von der Sprache der Chaymas so gut
wie nichts, und die Aehnlichkeit gewisser Laute verwirrt den
armen Indianern die Köpfe so sehr, daß sie sich die wunder-
lichsten Vorstellungen machen. Ich gebe nur ein Beispiel.
Wir sahen eines Tages, wie sich der Missionär große Mühe
gab, darzuthun, daß infierno, die Hölle, und invierno, der
Winter, nicht dasselbe Ding seien, sondern so verschieden wie
Hitze und Frost. Die Chaymas kennen keinen anderen Winter
als die Regenzeit, und unter der "Hölle der Weißen" dachten
sie sich einen Ort, wo die Bösen furchtbaren Regengüssen aus-
gesetzt seien. Der Missionär verlor die Geduld, aber es half
alles nichts; der erste Eindruck, den zwei ähnliche Konsonanten

Achtes Kapitel.

Abreiſe von Caripe. — Berg und Wald Santa Maria. — Die
Miſſion Catuaro. — Hafen von Cariaco.

Raſch verfloſſen uns die Tage, die wir im Kapuziner-
kloſter in den Bergen von Caripe zubrachten, und doch war
unſer Leben ſo einfach als einförmig. Von Sonnenaufgang
bis Einbruch der Nacht ſtreiften wir durch die benachbarten
Wälder und Berge, um Pflanzen zu ſammeln, deren wir nie
genug beiſammen haben konnten. Konnten wir des ſtarken
Regens wegen nicht weit hinaus, ſo beſuchten wir die Hütten
der Indianer, den Gemeindeconuco oder die Verſammlungen,
in denen die Alkaden jeden Abend die Arbeiten für den fol-
genden Tag austeilen. Wir kehrten erſt ins Kloſter zurück,
wenn uns die Glocke ins Refektorium an den Tiſch der Miſ-
ſionäre rief. Zuweilen gingen wir mit ihnen frühmorgens
in die Kirche, um der „Doctrina“ beizuwohnen, das heißt
dem Religionsunterricht der Eingeborenen. Es iſt ein zum
wenigſten ſehr gewagtes Unternehmen, mit Neubekehrten über
Dogmen zu verhandeln, zumal wenn ſie des Spaniſchen nur
in geringem Grade mächtig ſind. Andererſeits verſtehen gegen-
wärtig die Ordensleute von der Sprache der Chaymas ſo gut
wie nichts, und die Aehnlichkeit gewiſſer Laute verwirrt den
armen Indianern die Köpfe ſo ſehr, daß ſie ſich die wunder-
lichſten Vorſtellungen machen. Ich gebe nur ein Beiſpiel.
Wir ſahen eines Tages, wie ſich der Miſſionär große Mühe
gab, darzuthun, daß infierno, die Hölle, und invierno, der
Winter, nicht dasſelbe Ding ſeien, ſondern ſo verſchieden wie
Hitze und Froſt. Die Chaymas kennen keinen anderen Winter
als die Regenzeit, und unter der „Hölle der Weißen“ dachten
ſie ſich einen Ort, wo die Böſen furchtbaren Regengüſſen aus-
geſetzt ſeien. Der Miſſionär verlor die Geduld, aber es half
alles nichts; der erſte Eindruck, den zwei ähnliche Konſonanten

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[[275]/0291] Achtes Kapitel. Abreiſe von Caripe. — Berg und Wald Santa Maria. — Die Miſſion Catuaro. — Hafen von Cariaco. Raſch verfloſſen uns die Tage, die wir im Kapuziner- kloſter in den Bergen von Caripe zubrachten, und doch war unſer Leben ſo einfach als einförmig. Von Sonnenaufgang bis Einbruch der Nacht ſtreiften wir durch die benachbarten Wälder und Berge, um Pflanzen zu ſammeln, deren wir nie genug beiſammen haben konnten. Konnten wir des ſtarken Regens wegen nicht weit hinaus, ſo beſuchten wir die Hütten der Indianer, den Gemeindeconuco oder die Verſammlungen, in denen die Alkaden jeden Abend die Arbeiten für den fol- genden Tag austeilen. Wir kehrten erſt ins Kloſter zurück, wenn uns die Glocke ins Refektorium an den Tiſch der Miſ- ſionäre rief. Zuweilen gingen wir mit ihnen frühmorgens in die Kirche, um der „Doctrina“ beizuwohnen, das heißt dem Religionsunterricht der Eingeborenen. Es iſt ein zum wenigſten ſehr gewagtes Unternehmen, mit Neubekehrten über Dogmen zu verhandeln, zumal wenn ſie des Spaniſchen nur in geringem Grade mächtig ſind. Andererſeits verſtehen gegen- wärtig die Ordensleute von der Sprache der Chaymas ſo gut wie nichts, und die Aehnlichkeit gewiſſer Laute verwirrt den armen Indianern die Köpfe ſo ſehr, daß ſie ſich die wunder- lichſten Vorſtellungen machen. Ich gebe nur ein Beiſpiel. Wir ſahen eines Tages, wie ſich der Miſſionär große Mühe gab, darzuthun, daß infierno, die Hölle, und invierno, der Winter, nicht dasſelbe Ding ſeien, ſondern ſo verſchieden wie Hitze und Froſt. Die Chaymas kennen keinen anderen Winter als die Regenzeit, und unter der „Hölle der Weißen“ dachten ſie ſich einen Ort, wo die Böſen furchtbaren Regengüſſen aus- geſetzt ſeien. Der Miſſionär verlor die Geduld, aber es half alles nichts; der erſte Eindruck, den zwei ähnliche Konſonanten

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. [275]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/291>, abgerufen am 21.11.2024.