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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.

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der Alten und der Neuen.

Es wäre noch übrig, Ihnen einige besondere Theile unserer Spaziergänge be-
kannt zu machen und einige Aufschriften mitzutheilen, die sich an malerischen Plätzen
befinden, wo man am gewöhnlichsten verweilt. Aber muß ich nicht befürchten, daß
die Strenge Ihres Geschmacks nicht zuletzt über die Nachsicht Ihrer Freundschaft die
Oberhand behalten werde? Einige Worte sind hier auf die Gegend eingerichtet, wie
man gefallenden Melodien Worte unterzulegen pflegt. Ohne die Gegend verlieren
die erstern, wie die letztern ohne die Melodie.

Indessen, wenn die Freundschaft sich an einzelnen Beschreibungen ergötzt, und
wenn die Einbildungskraft, die in Ihrem Geiste alles, was ein Recht auf Ihr Herz
hat, zur Wirklichkeit bringt, Sie an diesen Ort versetzet hat, wo wir Sie zu besitzen
wünschen: so darf ich es wagen, Sie in einige von den Plätzen zu führen, wo wir
uns mit unsern Hamadryaden unterhalten.

Hier stehet eine alte Weide mitten auf einem schattigten Wege, der an dem
sich schlängelnden Canale hingeht. Dieser Baum hat das Ansehen, daß er mehr
als eine Veränderung der Bewohner dieses Ufers erlebt hat. Sein knotigter Stamm
ist noch mit Zweigen und Laub gekrönt. In der Höhe, nach welcher sich natürlicher
Weise die Blicke richten, ruft eine Art von Mund die Idee der Orakel zurück, die
sich ehemals hören ließen, ohne Zweifel um den Menschen den Rath zu ertheilen,
den sie so oft nöthig haben. Sie reden zu unserer Zeit nicht mehr: aber an diesem
Ort schreiben sie noch; und hier sind die Worte, welche die Hamadryade an diejeni-
gen, die vor ihrer Wohnung vorübergehen, zu richten scheint.

Vivez pour peu d'amis; occupez peu d'espace;
Faites du bien surtout; formez peu de projets.
Vos jours seront heureux; & si ce bonheur passe,
Il ne vous laissera ni remords, ni regrets.

In einiger Entfernung von dieser alten Weide befindet sich eine Art eines Ca-
binets, das von dem Ufer über das Wasser hervorspringt; es ruhet auf einem darun-
ter befindlichen Baume, dessen ausgebreitete Zweige Anlaß gegeben haben, einen
bequemen Sitz daraus zu bilden. Man ist da mit Aesten umgeben, die den Baum
bekränzen, von allen Seiten zum Geländer diener, und nichts frey lassen, als den
zum Sitzen nöthigen Raum. Nichts ist so sehr für das Nachdenken eingerichtet,
als dieser Aufenthalt, wo das gleichsam verhüllte Gesicht dennoch durch das Laub
dringt, wo man die Bewegung der Gewässer erblickt, und wo ihr Geräusch hörbar
genug ist, um zum stillen Nachdenken einzuladen. Auf beyden Seiten des Sitzes
scheinen die Zweige sich einander zu nähern, damit man das lesen möge, was auf ihrer

Rinde
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der Alten und der Neuen.

Es waͤre noch uͤbrig, Ihnen einige beſondere Theile unſerer Spaziergaͤnge be-
kannt zu machen und einige Aufſchriften mitzutheilen, die ſich an maleriſchen Plaͤtzen
befinden, wo man am gewoͤhnlichſten verweilt. Aber muß ich nicht befuͤrchten, daß
die Strenge Ihres Geſchmacks nicht zuletzt uͤber die Nachſicht Ihrer Freundſchaft die
Oberhand behalten werde? Einige Worte ſind hier auf die Gegend eingerichtet, wie
man gefallenden Melodien Worte unterzulegen pflegt. Ohne die Gegend verlieren
die erſtern, wie die letztern ohne die Melodie.

Indeſſen, wenn die Freundſchaft ſich an einzelnen Beſchreibungen ergoͤtzt, und
wenn die Einbildungskraft, die in Ihrem Geiſte alles, was ein Recht auf Ihr Herz
hat, zur Wirklichkeit bringt, Sie an dieſen Ort verſetzet hat, wo wir Sie zu beſitzen
wuͤnſchen: ſo darf ich es wagen, Sie in einige von den Plaͤtzen zu fuͤhren, wo wir
uns mit unſern Hamadryaden unterhalten.

Hier ſtehet eine alte Weide mitten auf einem ſchattigten Wege, der an dem
ſich ſchlaͤngelnden Canale hingeht. Dieſer Baum hat das Anſehen, daß er mehr
als eine Veraͤnderung der Bewohner dieſes Ufers erlebt hat. Sein knotigter Stamm
iſt noch mit Zweigen und Laub gekroͤnt. In der Hoͤhe, nach welcher ſich natuͤrlicher
Weiſe die Blicke richten, ruft eine Art von Mund die Idee der Orakel zuruͤck, die
ſich ehemals hoͤren ließen, ohne Zweifel um den Menſchen den Rath zu ertheilen,
den ſie ſo oft noͤthig haben. Sie reden zu unſerer Zeit nicht mehr: aber an dieſem
Ort ſchreiben ſie noch; und hier ſind die Worte, welche die Hamadryade an diejeni-
gen, die vor ihrer Wohnung voruͤbergehen, zu richten ſcheint.

Vivez pour peu d’amis; occupez peu d’eſpace;
Faites du bien ſurtout; formez peu de projets.
Vos jours ſeront heureux; & ſi ce bonheur paſſe,
Il ne vous laiſſera ni remords, ni regrets.

In einiger Entfernung von dieſer alten Weide befindet ſich eine Art eines Ca-
binets, das von dem Ufer uͤber das Waſſer hervorſpringt; es ruhet auf einem darun-
ter befindlichen Baume, deſſen ausgebreitete Zweige Anlaß gegeben haben, einen
bequemen Sitz daraus zu bilden. Man iſt da mit Aeſten umgeben, die den Baum
bekraͤnzen, von allen Seiten zum Gelaͤnder diener, und nichts frey laſſen, als den
zum Sitzen noͤthigen Raum. Nichts iſt ſo ſehr fuͤr das Nachdenken eingerichtet,
als dieſer Aufenthalt, wo das gleichſam verhuͤllte Geſicht dennoch durch das Laub
dringt, wo man die Bewegung der Gewaͤſſer erblickt, und wo ihr Geraͤuſch hoͤrbar
genug iſt, um zum ſtillen Nachdenken einzuladen. Auf beyden Seiten des Sitzes
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[43/0057] der Alten und der Neuen. Es waͤre noch uͤbrig, Ihnen einige beſondere Theile unſerer Spaziergaͤnge be- kannt zu machen und einige Aufſchriften mitzutheilen, die ſich an maleriſchen Plaͤtzen befinden, wo man am gewoͤhnlichſten verweilt. Aber muß ich nicht befuͤrchten, daß die Strenge Ihres Geſchmacks nicht zuletzt uͤber die Nachſicht Ihrer Freundſchaft die Oberhand behalten werde? Einige Worte ſind hier auf die Gegend eingerichtet, wie man gefallenden Melodien Worte unterzulegen pflegt. Ohne die Gegend verlieren die erſtern, wie die letztern ohne die Melodie. Indeſſen, wenn die Freundſchaft ſich an einzelnen Beſchreibungen ergoͤtzt, und wenn die Einbildungskraft, die in Ihrem Geiſte alles, was ein Recht auf Ihr Herz hat, zur Wirklichkeit bringt, Sie an dieſen Ort verſetzet hat, wo wir Sie zu beſitzen wuͤnſchen: ſo darf ich es wagen, Sie in einige von den Plaͤtzen zu fuͤhren, wo wir uns mit unſern Hamadryaden unterhalten. Hier ſtehet eine alte Weide mitten auf einem ſchattigten Wege, der an dem ſich ſchlaͤngelnden Canale hingeht. Dieſer Baum hat das Anſehen, daß er mehr als eine Veraͤnderung der Bewohner dieſes Ufers erlebt hat. Sein knotigter Stamm iſt noch mit Zweigen und Laub gekroͤnt. In der Hoͤhe, nach welcher ſich natuͤrlicher Weiſe die Blicke richten, ruft eine Art von Mund die Idee der Orakel zuruͤck, die ſich ehemals hoͤren ließen, ohne Zweifel um den Menſchen den Rath zu ertheilen, den ſie ſo oft noͤthig haben. Sie reden zu unſerer Zeit nicht mehr: aber an dieſem Ort ſchreiben ſie noch; und hier ſind die Worte, welche die Hamadryade an diejeni- gen, die vor ihrer Wohnung voruͤbergehen, zu richten ſcheint. Vivez pour peu d’amis; occupez peu d’eſpace; Faites du bien ſurtout; formez peu de projets. Vos jours ſeront heureux; & ſi ce bonheur paſſe, Il ne vous laiſſera ni remords, ni regrets. In einiger Entfernung von dieſer alten Weide befindet ſich eine Art eines Ca- binets, das von dem Ufer uͤber das Waſſer hervorſpringt; es ruhet auf einem darun- ter befindlichen Baume, deſſen ausgebreitete Zweige Anlaß gegeben haben, einen bequemen Sitz daraus zu bilden. Man iſt da mit Aeſten umgeben, die den Baum bekraͤnzen, von allen Seiten zum Gelaͤnder diener, und nichts frey laſſen, als den zum Sitzen noͤthigen Raum. Nichts iſt ſo ſehr fuͤr das Nachdenken eingerichtet, als dieſer Aufenthalt, wo das gleichſam verhuͤllte Geſicht dennoch durch das Laub dringt, wo man die Bewegung der Gewaͤſſer erblickt, und wo ihr Geraͤuſch hoͤrbar genug iſt, um zum ſtillen Nachdenken einzuladen. Auf beyden Seiten des Sitzes ſcheinen die Zweige ſich einander zu naͤhern, damit man das leſen moͤge, was auf ihrer Rinde F 2

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779/57>, abgerufen am 26.04.2024.