Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite
D. Hilbert,
7. Irrationalität und Transcendenz bestimmter Zahlen.

Hermite's arithmetische Sätze über die Exponentialfunction
und ihre Weiterführung durch Lindemann sind der Bewunde-
rung aller mathematischer Generationen sicher. Aber zugleich
erwächst uns die Aufgabe, auf dem betretenen Wege fortzu-
schreiten. Ich möchte daher eine Klasse von Problemen kennzeich-
nen, die meiner Meinung nach als die nächstliegenden hier in An-
griff zu nehmen sind. Wenn wir von speciellen, in der Analysis
wichtigen transcendenten Functionen erkennen, daß sie für gewisse
algebraische Argumente algebraische Werte annehmen, so er-
scheint uns diese Thatsache stets als besonders merkwürdig und
der eingehenden Untersuchung würdig. Wir erwarten eben von
transcendenten Funktionen, daß sie für algebraische Argumente
im Allgemeinen auch transcendente Werte annehmen, und obgleich
uns wohl bekannt ist, daß es thatsächlich ganze transcendente
Functionen giebt, die für alle algebraischen Argumente sogar ra-
tionale Werte besitzen, so werden wir es doch für höchst wahr-
scheinlich halten, daß z. B. die Exponentialfunction eipz die offen-
bar für alle rationalen Argumente z stets algebraische Werte
hat, andrerseits für alle irrationalen algebraischen Argumente z
stets transcendente Zahlenwerte annimmt. Wir können dieser
Aussage auch eine geometrische Einkleidung geben, wie folgt.
Wenn in einem gleichschenkligen Dreieck das Verhältnis vom Basis-
winkel zum Winkel an der Spitze algebraisch, aber nicht rational
ist, so ist das Verhältnis zwischen Basis und Schenkel stets tran-
scendent
. Trotz der Einfachheit dieser Aussage und der Aehnlich-
keit mit den von Hermite und Lindemann gelösten Pro-
blemen halte ich doch den Beweis dieses Satzes für äußerst schwie-
rig, ebenso wie etwa den Nachweis dafür, daß die Potenz ab für
eine algebraische Basis a und einen algebraisch irrationalen Exponenten
b, z. B. die Zahl
2sqrt2 oder ep = i-2i, stets eine transcendente oder
auch nur eine irrationale Zahl darstellt
. Es ist gewiß, daß die Lö-
sung dieser und ähnlicher Probleme uns zu ganz neuen Methoden
und zu neuen Einblicken in das Wesen specieller irrationaler und
transcendenter Zahlen führen muß.

8. Primzahlenprobleme.

In der Theorie der Verteilung der Primzahlen sind in neuerer
Zeit durch Hadamard, de la Vallee Poussin, v. Mangoldt
und Andere wesentliche Fortschritte gemacht worden. Zur voll-
ständigen Lösung der Probleme, die uns die Riemannsche Ab-

D. Hilbert,
7. Irrationalität und Transcendenz bestimmter Zahlen.

Hermite’s arithmetische Sätze über die Exponentialfunction
und ihre Weiterführung durch Lindemann sind der Bewunde-
rung aller mathematischer Generationen sicher. Aber zugleich
erwächst uns die Aufgabe, auf dem betretenen Wege fortzu-
schreiten. Ich möchte daher eine Klasse von Problemen kennzeich-
nen, die meiner Meinung nach als die nächstliegenden hier in An-
griff zu nehmen sind. Wenn wir von speciellen, in der Analysis
wichtigen transcendenten Functionen erkennen, daß sie für gewisse
algebraische Argumente algebraische Werte annehmen, so er-
scheint uns diese Thatsache stets als besonders merkwürdig und
der eingehenden Untersuchung würdig. Wir erwarten eben von
transcendenten Funktionen, daß sie für algebraische Argumente
im Allgemeinen auch transcendente Werte annehmen, und obgleich
uns wohl bekannt ist, daß es thatsächlich ganze transcendente
Functionen giebt, die für alle algebraischen Argumente sogar ra-
tionale Werte besitzen, so werden wir es doch für höchst wahr-
scheinlich halten, daß z. B. die Exponentialfunction eiπz die offen-
bar für alle rationalen Argumente z stets algebraische Werte
hat, andrerseits für alle irrationalen algebraischen Argumente z
stets transcendente Zahlenwerte annimmt. Wir können dieser
Aussage auch eine geometrische Einkleidung geben, wie folgt.
Wenn in einem gleichschenkligen Dreieck das Verhältnis vom Basis-
winkel zum Winkel an der Spitze algebraisch, aber nicht rational
ist, so ist das Verhältnis zwischen Basis und Schenkel stets tran-
scendent
. Trotz der Einfachheit dieser Aussage und der Aehnlich-
keit mit den von Hermite und Lindemann gelösten Pro-
blemen halte ich doch den Beweis dieses Satzes für äußerst schwie-
rig, ebenso wie etwa den Nachweis dafür, daß die Potenz αβ für
eine algebraische Basis α und einen algebraisch irrationalen Exponenten
β, z. B. die Zahl
2√2 oder eπ = i-2i, stets eine transcendente oder
auch nur eine irrationale Zahl darstellt
. Es ist gewiß, daß die Lö-
sung dieser und ähnlicher Probleme uns zu ganz neuen Methoden
und zu neuen Einblicken in das Wesen specieller irrationaler und
transcendenter Zahlen führen muß.

8. Primzahlenprobleme.

In der Theorie der Verteilung der Primzahlen sind in neuerer
Zeit durch Hadamard, de la Vallée Poussin, v. Mangoldt
und Andere wesentliche Fortschritte gemacht worden. Zur voll-
ständigen Lösung der Probleme, die uns die Riemannsche Ab-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0030" n="274"/>
          <fw place="top" type="header">D. <hi rendition="#g">Hilbert</hi>,</fw>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>7. Irrationalität und Transcendenz bestimmter Zahlen.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Hermite&#x2019;s</hi> arithmetische Sätze über die Exponentialfunction<lb/>
und ihre Weiterführung durch <hi rendition="#g">Lindemann</hi> sind der Bewunde-<lb/>
rung aller mathematischer Generationen sicher. Aber zugleich<lb/>
erwächst uns die Aufgabe, auf dem betretenen Wege fortzu-<lb/>
schreiten. Ich möchte daher eine Klasse von Problemen kennzeich-<lb/>
nen, die meiner Meinung nach als die nächstliegenden hier in An-<lb/>
griff zu nehmen sind. Wenn wir von speciellen, in der Analysis<lb/>
wichtigen transcendenten Functionen erkennen, daß sie für gewisse<lb/>
algebraische Argumente algebraische Werte annehmen, so er-<lb/>
scheint uns diese Thatsache stets als besonders merkwürdig und<lb/>
der eingehenden Untersuchung würdig. Wir erwarten eben von<lb/>
transcendenten Funktionen, daß sie für algebraische Argumente<lb/>
im Allgemeinen auch transcendente Werte annehmen, und obgleich<lb/>
uns wohl bekannt ist, daß es thatsächlich ganze transcendente<lb/>
Functionen giebt, die für alle algebraischen Argumente sogar ra-<lb/>
tionale Werte besitzen, so werden wir es doch für höchst wahr-<lb/>
scheinlich halten, daß z. B. die Exponentialfunction <hi rendition="#i">e<hi rendition="#sup">i&#x03C0;z</hi></hi> die offen-<lb/>
bar für alle rationalen Argumente <hi rendition="#i">z</hi> stets algebraische Werte<lb/>
hat, andrerseits für alle irrationalen algebraischen Argumente <hi rendition="#i">z</hi><lb/>
stets transcendente Zahlenwerte annimmt. Wir können dieser<lb/>
Aussage auch eine geometrische Einkleidung geben, wie folgt.<lb/><hi rendition="#i">Wenn in einem gleichschenkligen Dreieck das Verhältnis vom Basis-<lb/>
winkel zum Winkel an der Spitze algebraisch, aber nicht rational<lb/>
ist, so ist das Verhältnis zwischen Basis und Schenkel stets tran-<lb/>
scendent</hi>. Trotz der Einfachheit dieser Aussage und der Aehnlich-<lb/>
keit mit den von <hi rendition="#g">Hermite</hi> und <hi rendition="#g">Lindemann</hi> gelösten Pro-<lb/>
blemen halte ich doch den Beweis dieses Satzes für äußerst schwie-<lb/>
rig, ebenso wie etwa den Nachweis dafür, <hi rendition="#i">daß die Potenz &#x03B1;<hi rendition="#sup">&#x03B2;</hi> für<lb/>
eine algebraische Basis &#x03B1; und einen algebraisch irrationalen Exponenten<lb/>
&#x03B2;, z. B. die Zahl</hi> 2&#x221A;2 <hi rendition="#i">oder e<hi rendition="#sup">&#x03C0;</hi> = i<hi rendition="#sup">-2i</hi>, stets eine transcendente oder<lb/>
auch nur eine irrationale Zahl darstellt</hi>. Es ist gewiß, daß die Lö-<lb/>
sung dieser und ähnlicher Probleme uns zu ganz neuen Methoden<lb/>
und zu neuen Einblicken in das Wesen specieller irrationaler und<lb/>
transcendenter Zahlen führen muß.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>8. Primzahlenprobleme.</head><lb/>
          <p>In der Theorie der Verteilung der Primzahlen sind in neuerer<lb/>
Zeit durch <hi rendition="#g">Hadamard, de la Vallée Poussin, v. Mangoldt</hi><lb/>
und Andere wesentliche Fortschritte gemacht worden. Zur voll-<lb/>
ständigen Lösung der Probleme, die uns die <hi rendition="#g">Riemannsche</hi> Ab-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[274/0030] D. Hilbert, 7. Irrationalität und Transcendenz bestimmter Zahlen. Hermite’s arithmetische Sätze über die Exponentialfunction und ihre Weiterführung durch Lindemann sind der Bewunde- rung aller mathematischer Generationen sicher. Aber zugleich erwächst uns die Aufgabe, auf dem betretenen Wege fortzu- schreiten. Ich möchte daher eine Klasse von Problemen kennzeich- nen, die meiner Meinung nach als die nächstliegenden hier in An- griff zu nehmen sind. Wenn wir von speciellen, in der Analysis wichtigen transcendenten Functionen erkennen, daß sie für gewisse algebraische Argumente algebraische Werte annehmen, so er- scheint uns diese Thatsache stets als besonders merkwürdig und der eingehenden Untersuchung würdig. Wir erwarten eben von transcendenten Funktionen, daß sie für algebraische Argumente im Allgemeinen auch transcendente Werte annehmen, und obgleich uns wohl bekannt ist, daß es thatsächlich ganze transcendente Functionen giebt, die für alle algebraischen Argumente sogar ra- tionale Werte besitzen, so werden wir es doch für höchst wahr- scheinlich halten, daß z. B. die Exponentialfunction eiπz die offen- bar für alle rationalen Argumente z stets algebraische Werte hat, andrerseits für alle irrationalen algebraischen Argumente z stets transcendente Zahlenwerte annimmt. Wir können dieser Aussage auch eine geometrische Einkleidung geben, wie folgt. Wenn in einem gleichschenkligen Dreieck das Verhältnis vom Basis- winkel zum Winkel an der Spitze algebraisch, aber nicht rational ist, so ist das Verhältnis zwischen Basis und Schenkel stets tran- scendent. Trotz der Einfachheit dieser Aussage und der Aehnlich- keit mit den von Hermite und Lindemann gelösten Pro- blemen halte ich doch den Beweis dieses Satzes für äußerst schwie- rig, ebenso wie etwa den Nachweis dafür, daß die Potenz αβ für eine algebraische Basis α und einen algebraisch irrationalen Exponenten β, z. B. die Zahl 2√2 oder eπ = i-2i, stets eine transcendente oder auch nur eine irrationale Zahl darstellt. Es ist gewiß, daß die Lö- sung dieser und ähnlicher Probleme uns zu ganz neuen Methoden und zu neuen Einblicken in das Wesen specieller irrationaler und transcendenter Zahlen führen muß. 8. Primzahlenprobleme. In der Theorie der Verteilung der Primzahlen sind in neuerer Zeit durch Hadamard, de la Vallée Poussin, v. Mangoldt und Andere wesentliche Fortschritte gemacht worden. Zur voll- ständigen Lösung der Probleme, die uns die Riemannsche Ab-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/30
Zitationshilfe: Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/30>, abgerufen am 03.12.2024.