Jener Blindgebohrne, den Diderot bemerk- te a), stellte sich den Sinn des Gesichts wie ein Organ vor, auf das die Luft etwa den Eindruck mache, wie ihm ein Stab auf die fühlende Hand. Ein Spiegel dünkte ihm eine Maschiene, Körper im Relief außer sich zu wer- fen, wobei er nicht begriff, wie dies Relief sich nicht fühlen lasse, und glaubte, daß ein Mittel, eine zweite Maschiene möglich seyn müsse, den Betrug der ersten zu zeigen. Sein seines rich- tiges Gefühl ersetzte ihm, in seiner Meinung, das Gesicht völlig. Er unterschied bei der Härte und Glätte eines Körpers nicht minder fein, als beim Ton einer Stimme oder wir Sehenden bei Far- ben. Er beneidete uns also auch unser Gesicht, von dem er keine Vorstellung hatte, nicht; wars ihm ja um eine Vermehrung seiner Sinne zu thun, so wünschte er sich etwa längere Arme, um in den Mond gewisser und sichrer zu fühlen, als wir hinein sähen.
So
a)Lettre sur les aveugles etc.
A 3
Erſter Abſchnitt.
1.
Jener Blindgebohrne, den Diderot bemerk- te a), ſtellte ſich den Sinn des Geſichts wie ein Organ vor, auf das die Luft etwa den Eindruck mache, wie ihm ein Stab auf die fuͤhlende Hand. Ein Spiegel duͤnkte ihm eine Maſchiene, Koͤrper im Relief außer ſich zu wer- fen, wobei er nicht begriff, wie dies Relief ſich nicht fuͤhlen laſſe, und glaubte, daß ein Mittel, eine zweite Maſchiene moͤglich ſeyn muͤſſe, den Betrug der erſten zu zeigen. Sein ſeines rich- tiges Gefuͤhl erſetzte ihm, in ſeiner Meinung, das Geſicht voͤllig. Er unterſchied bei der Haͤrte und Glaͤtte eines Koͤrpers nicht minder fein, als beim Ton einer Stimme oder wir Sehenden bei Far- ben. Er beneidete uns alſo auch unſer Geſicht, von dem er keine Vorſtellung hatte, nicht; wars ihm ja um eine Vermehrung ſeiner Sinne zu thun, ſo wuͤnſchte er ſich etwa laͤngere Arme, um in den Mond gewiſſer und ſichrer zu fuͤhlen, als wir hinein ſaͤhen.
So
a)Lettre ſur les aveugles etc.
A 3
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Erſter Abſchnitt.
1.
Jener Blindgebohrne, den Diderot bemerk-
te a), ſtellte ſich den Sinn des Geſichts
wie ein Organ vor, auf das die Luft etwa
den Eindruck mache, wie ihm ein Stab auf die
fuͤhlende Hand. Ein Spiegel duͤnkte ihm eine
Maſchiene, Koͤrper im Relief außer ſich zu wer-
fen, wobei er nicht begriff, wie dies Relief ſich
nicht fuͤhlen laſſe, und glaubte, daß ein Mittel,
eine zweite Maſchiene moͤglich ſeyn muͤſſe, den
Betrug der erſten zu zeigen. Sein ſeines rich-
tiges Gefuͤhl erſetzte ihm, in ſeiner Meinung, das
Geſicht voͤllig. Er unterſchied bei der Haͤrte und
Glaͤtte eines Koͤrpers nicht minder fein, als beim
Ton einer Stimme oder wir Sehenden bei Far-
ben. Er beneidete uns alſo auch unſer Geſicht,
von dem er keine Vorſtellung hatte, nicht; wars
ihm ja um eine Vermehrung ſeiner Sinne zu thun,
ſo wuͤnſchte er ſich etwa laͤngere Arme, um in
den Mond gewiſſer und ſichrer zu fuͤhlen, als wir
hinein ſaͤhen.
So
a) Lettre ſur les aveugles etc.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. [5]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/8>, abgerufen am 22.02.2025.
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