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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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Zweiter Abschnitt.


1.

Bildhauerkunst und Mahlerei, warum beklei-
den sie nicht mit Einem Glücke, nicht
auf Einerlei Art?

Antwort. Weil die Bildnerei eigentlich gar
nicht bekleiden kann und die Mahlerei im-
mer kleidet.

Die Bildnerei kann gar nicht bekleiden; denn
offenbar verhüllet sie gleich unter dem
Kleide, es ist nicht mehr ein menschlicher
Körper, sondern ein langgekleideter Block. Kleid
als Kleid kann sie nicht bilden, denn dies ist kein
Solidum, kein Völliges, Rundes. Es ist nur
Hülle unsres Körpers der Nothwendigkeit wegen,
eine Wolke gleichsam die uns umgibt, ein Schatte,
ein Schleier. Je mehr es in der Natur selbst
drückend wird und dem Körper Wuchs, Gestalt,
Gang, Kraft nimmt: desto mehr fühlen wir die
fremde, unwesentliche Last. Und nun in der Kunst
ist ein Gewand von Stein, Erz, Holz ja im höch-

sten


Zweiter Abſchnitt.


1.

Bildhauerkunſt und Mahlerei, warum beklei-
den ſie nicht mit Einem Gluͤcke, nicht
auf Einerlei Art?

Antwort. Weil die Bildnerei eigentlich gar
nicht bekleiden kann und die Mahlerei im-
mer kleidet.

Die Bildnerei kann gar nicht bekleiden; denn
offenbar verhuͤllet ſie gleich unter dem
Kleide, es iſt nicht mehr ein menſchlicher
Koͤrper, ſondern ein langgekleideter Block. Kleid
als Kleid kann ſie nicht bilden, denn dies iſt kein
Solidum, kein Voͤlliges, Rundes. Es iſt nur
Huͤlle unſres Koͤrpers der Nothwendigkeit wegen,
eine Wolke gleichſam die uns umgibt, ein Schatte,
ein Schleier. Je mehr es in der Natur ſelbſt
druͤckend wird und dem Koͤrper Wuchs, Geſtalt,
Gang, Kraft nimmt: deſto mehr fuͤhlen wir die
fremde, unweſentliche Laſt. Und nun in der Kunſt
iſt ein Gewand von Stein, Erz, Holz ja im hoͤch-

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[29/0032] Zweiter Abſchnitt. 1. Bildhauerkunſt und Mahlerei, warum beklei- den ſie nicht mit Einem Gluͤcke, nicht auf Einerlei Art? Antwort. Weil die Bildnerei eigentlich gar nicht bekleiden kann und die Mahlerei im- mer kleidet. Die Bildnerei kann gar nicht bekleiden; denn offenbar verhuͤllet ſie gleich unter dem Kleide, es iſt nicht mehr ein menſchlicher Koͤrper, ſondern ein langgekleideter Block. Kleid als Kleid kann ſie nicht bilden, denn dies iſt kein Solidum, kein Voͤlliges, Rundes. Es iſt nur Huͤlle unſres Koͤrpers der Nothwendigkeit wegen, eine Wolke gleichſam die uns umgibt, ein Schatte, ein Schleier. Je mehr es in der Natur ſelbſt druͤckend wird und dem Koͤrper Wuchs, Geſtalt, Gang, Kraft nimmt: deſto mehr fuͤhlen wir die fremde, unweſentliche Laſt. Und nun in der Kunſt iſt ein Gewand von Stein, Erz, Holz ja im hoͤch- ſten

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/32>, abgerufen am 21.11.2024.