Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite
Von den Lebensaltern einer
Sprache.


So wie der Mensch auf verschiedenen Stuf-
fen des Alters erscheinet: so verändert die Zeit
alles. Das ganze Menschengeschlecht, ja die
todte Welt selbst, jede Nation, und jede Fa-
milie haben einerlei Gesezze der Veränderung:
vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum
Vortreflichen, vom Vortreflichen zum Schlech-
tern, und zum Schlechten: dieses ist der
Kreislauf aller Dinge. So ists mit jeder
Kunst und Wissenschaft: sie keimt, trägt Kno-
spen, blüht auf, und verblühet. -- So ists
auch mit der Sprache. Daß man dies bis-
her so wenig als möglich unterschieden, daß
man diese Zeitalter beständig verwirret, wer-
den die Plane zeigen, die man so oft macht,
um eine Stuffe aus der andern ausbilden zu
wollen: man reifet das Kind zu früh zum
Milchhaar des Jünglings; den muntern Jüng-
ling fesselt man durch den Ernst des Mannes,
und der Greis soll wieder in seine vorige Kind-
heit zurückkehren; oder gar eine Sprache soll

auf
Von den Lebensaltern einer
Sprache.


So wie der Menſch auf verſchiedenen Stuf-
fen des Alters erſcheinet: ſo veraͤndert die Zeit
alles. Das ganze Menſchengeſchlecht, ja die
todte Welt ſelbſt, jede Nation, und jede Fa-
milie haben einerlei Geſezze der Veraͤnderung:
vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum
Vortreflichen, vom Vortreflichen zum Schlech-
tern, und zum Schlechten: dieſes iſt der
Kreislauf aller Dinge. So iſts mit jeder
Kunſt und Wiſſenſchaft: ſie keimt, traͤgt Kno-
ſpen, bluͤht auf, und verbluͤhet. — So iſts
auch mit der Sprache. Daß man dies bis-
her ſo wenig als moͤglich unterſchieden, daß
man dieſe Zeitalter beſtaͤndig verwirret, wer-
den die Plane zeigen, die man ſo oft macht,
um eine Stuffe aus der andern ausbilden zu
wollen: man reifet das Kind zu fruͤh zum
Milchhaar des Juͤnglings; den muntern Juͤng-
ling feſſelt man durch den Ernſt des Mannes,
und der Greis ſoll wieder in ſeine vorige Kind-
heit zuruͤckkehren; oder gar eine Sprache ſoll

auf
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0031" n="27"/>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#b">Von den Lebensaltern einer</hi><lb/>
Sprache.</head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p><hi rendition="#in">S</hi>o wie der Men&#x017F;ch auf ver&#x017F;chiedenen Stuf-<lb/>
fen des Alters er&#x017F;cheinet: &#x017F;o vera&#x0364;ndert die Zeit<lb/>
alles. Das ganze Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht, ja die<lb/>
todte Welt &#x017F;elb&#x017F;t, jede Nation, und jede Fa-<lb/>
milie haben einerlei Ge&#x017F;ezze der Vera&#x0364;nderung:<lb/>
vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum<lb/>
Vortreflichen, vom Vortreflichen zum Schlech-<lb/>
tern, und zum Schlechten: die&#x017F;es i&#x017F;t der<lb/>
Kreislauf aller Dinge. So i&#x017F;ts mit jeder<lb/>
Kun&#x017F;t und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft: &#x017F;ie keimt, tra&#x0364;gt Kno-<lb/>
&#x017F;pen, blu&#x0364;ht auf, und verblu&#x0364;het. &#x2014; So i&#x017F;ts<lb/>
auch mit der <hi rendition="#fr">Sprache.</hi> Daß man dies bis-<lb/>
her &#x017F;o wenig als mo&#x0364;glich unter&#x017F;chieden, daß<lb/>
man die&#x017F;e Zeitalter be&#x017F;ta&#x0364;ndig verwirret, wer-<lb/>
den die Plane zeigen, die man &#x017F;o oft macht,<lb/>
um eine Stuffe aus der andern ausbilden zu<lb/>
wollen: man reifet das Kind zu fru&#x0364;h zum<lb/>
Milchhaar des Ju&#x0364;nglings; den muntern Ju&#x0364;ng-<lb/>
ling fe&#x017F;&#x017F;elt man durch den Ern&#x017F;t des Mannes,<lb/>
und der Greis &#x017F;oll wieder in &#x017F;eine vorige Kind-<lb/>
heit zuru&#x0364;ckkehren; oder gar eine Sprache &#x017F;oll<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">auf</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0031] Von den Lebensaltern einer Sprache. So wie der Menſch auf verſchiedenen Stuf- fen des Alters erſcheinet: ſo veraͤndert die Zeit alles. Das ganze Menſchengeſchlecht, ja die todte Welt ſelbſt, jede Nation, und jede Fa- milie haben einerlei Geſezze der Veraͤnderung: vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum Vortreflichen, vom Vortreflichen zum Schlech- tern, und zum Schlechten: dieſes iſt der Kreislauf aller Dinge. So iſts mit jeder Kunſt und Wiſſenſchaft: ſie keimt, traͤgt Kno- ſpen, bluͤht auf, und verbluͤhet. — So iſts auch mit der Sprache. Daß man dies bis- her ſo wenig als moͤglich unterſchieden, daß man dieſe Zeitalter beſtaͤndig verwirret, wer- den die Plane zeigen, die man ſo oft macht, um eine Stuffe aus der andern ausbilden zu wollen: man reifet das Kind zu fruͤh zum Milchhaar des Juͤnglings; den muntern Juͤng- ling feſſelt man durch den Ernſt des Mannes, und der Greis ſoll wieder in ſeine vorige Kind- heit zuruͤckkehren; oder gar eine Sprache ſoll auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/31
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/31>, abgerufen am 13.11.2024.