Schade, daß unserm lateinischen Homeristen die biblischen Epopeen, die wir in unsrer Sprache haben, z. E. ein Noah, Jakob, u. s. f. unbekannt oder nicht in seiner Compilation angeführt gewesen: welch ein gelehrtes Register mythologischer Herrlich- keiten würde er da excerpirt haben, zur Freude aller frommen Christen, und zur Lehre der Männer in Zürich!
6.
Man siehet, wie wenig Ueberzeugung das kahle Verbot ins Allgemeine hin: "kein mythologischer "Name komme in ein geistliches Gedicht!" für mich habe: ich muß mich also schon selbst nach Gränzen der Mythologie und eines christlichen Ge- dichts umsehen.
Zuerst rechne ich, wie gesagt, die lateinische Sprache nicht mit: denn schwer ists, zu bestimmen, wo der lateinische Ausdruck aufhöre, und der natio- nalrömische, der mythologische z. E. anfange. Noch schwerer ists, über so fremde Gegenstände, als ein heiliger Gesang liefert, Lateinisch, und im Geiste der Römer zu dichten; denn entweder wird der Jude und Christ romanisiren, oder der Nachfolger Vir- gils und Horaz judaisiren, hellenisiren müssen.
Zweitens rechne ich die Zeiten nicht mit, da die Mythologie gleichsam die zweite Mutter des poeti- schen Geistes war: und dies ist die Wiederauflebung
der-
E 4
Zweites Waͤldchen.
Schade, daß unſerm lateiniſchen Homeriſten die bibliſchen Epopeen, die wir in unſrer Sprache haben, z. E. ein Noah, Jakob, u. ſ. f. unbekannt oder nicht in ſeiner Compilation angefuͤhrt geweſen: welch ein gelehrtes Regiſter mythologiſcher Herrlich- keiten wuͤrde er da excerpirt haben, zur Freude aller frommen Chriſten, und zur Lehre der Maͤnner in Zuͤrich!
6.
Man ſiehet, wie wenig Ueberzeugung das kahle Verbot ins Allgemeine hin: „kein mythologiſcher „Name komme in ein geiſtliches Gedicht!„ fuͤr mich habe: ich muß mich alſo ſchon ſelbſt nach Graͤnzen der Mythologie und eines chriſtlichen Ge- dichts umſehen.
Zuerſt rechne ich, wie geſagt, die lateiniſche Sprache nicht mit: denn ſchwer iſts, zu beſtimmen, wo der lateiniſche Ausdruck aufhoͤre, und der natio- nalroͤmiſche, der mythologiſche z. E. anfange. Noch ſchwerer iſts, uͤber ſo fremde Gegenſtaͤnde, als ein heiliger Geſang liefert, Lateiniſch, und im Geiſte der Roͤmer zu dichten; denn entweder wird der Jude und Chriſt romaniſiren, oder der Nachfolger Vir- gils und Horaz judaiſiren, helleniſiren muͤſſen.
Zweitens rechne ich die Zeiten nicht mit, da die Mythologie gleichſam die zweite Mutter des poeti- ſchen Geiſtes war: und dies iſt die Wiederauflebung
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Zweites Waͤldchen.
Schade, daß unſerm lateiniſchen Homeriſten
die bibliſchen Epopeen, die wir in unſrer Sprache
haben, z. E. ein Noah, Jakob, u. ſ. f. unbekannt
oder nicht in ſeiner Compilation angefuͤhrt geweſen:
welch ein gelehrtes Regiſter mythologiſcher Herrlich-
keiten wuͤrde er da excerpirt haben, zur Freude aller
frommen Chriſten, und zur Lehre der Maͤnner in
Zuͤrich!
6.
Man ſiehet, wie wenig Ueberzeugung das kahle
Verbot ins Allgemeine hin: „kein mythologiſcher
„Name komme in ein geiſtliches Gedicht!„ fuͤr
mich habe: ich muß mich alſo ſchon ſelbſt nach
Graͤnzen der Mythologie und eines chriſtlichen Ge-
dichts umſehen.
Zuerſt rechne ich, wie geſagt, die lateiniſche
Sprache nicht mit: denn ſchwer iſts, zu beſtimmen,
wo der lateiniſche Ausdruck aufhoͤre, und der natio-
nalroͤmiſche, der mythologiſche z. E. anfange. Noch
ſchwerer iſts, uͤber ſo fremde Gegenſtaͤnde, als ein
heiliger Geſang liefert, Lateiniſch, und im Geiſte der
Roͤmer zu dichten; denn entweder wird der Jude
und Chriſt romaniſiren, oder der Nachfolger Vir-
gils und Horaz judaiſiren, helleniſiren muͤſſen.
Zweitens rechne ich die Zeiten nicht mit, da die
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/77>, abgerufen am 22.02.2025.
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