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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794.

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Hätte Realis nöthig gehabt, den Deut-
schen so oft unzeitige Geduld, ja Nieder-
trächtigkeit Schuld zu geben, wenn die
Großmuth, die er zu ihrem Vorzuge ma-
chen will, ihr eigenster Charakter wäre?
Kann Jahrhunderte lang ein Volk seinen
Charakter dergestalt verkennen, daß es bei-
nah immer im entgegengesetzten handelt?
Lasset uns nicht sagen; "Hindernisse haben
ihn unterdrückt." Im weiten Inbegriff
der Zeit kennt ein Volk keine unübersteig-
liche Hindernisse; es muß zu dem gelangen,
was es seyn soll.

Käme das Mscr., wovon wir reden,
in unsre Hand; so würde es dadurch am
meisten belehrend, was wir nach Ablauf
eines Jahrhunderts in ihm ausstreichen
oder hinzusetzen müßten. Wir würden se-
hen, wohin sein Verfasser den Kranz für
Deutschland gesteckt? und wiefern es wäh-

C 3

Haͤtte Realis noͤthig gehabt, den Deut-
ſchen ſo oft unzeitige Geduld, ja Nieder-
traͤchtigkeit Schuld zu geben, wenn die
Großmuth, die er zu ihrem Vorzuge ma-
chen will, ihr eigenſter Charakter waͤre?
Kann Jahrhunderte lang ein Volk ſeinen
Charakter dergeſtalt verkennen, daß es bei-
nah immer im entgegengeſetzten handelt?
Laſſet uns nicht ſagen; „Hinderniſſe haben
ihn unterdruͤckt.“ Im weiten Inbegriff
der Zeit kennt ein Volk keine unuͤberſteig-
liche Hinderniſſe; es muß zu dem gelangen,
was es ſeyn ſoll.

Kaͤme das Mſcr., wovon wir reden,
in unſre Hand; ſo wuͤrde es dadurch am
meiſten belehrend, was wir nach Ablauf
eines Jahrhunderts in ihm ausſtreichen
oder hinzuſetzen muͤßten. Wir wuͤrden ſe-
hen, wohin ſein Verfaſſer den Kranz fuͤr
Deutſchland geſteckt? und wiefern es waͤh-

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[37/0042] Haͤtte Realis noͤthig gehabt, den Deut- ſchen ſo oft unzeitige Geduld, ja Nieder- traͤchtigkeit Schuld zu geben, wenn die Großmuth, die er zu ihrem Vorzuge ma- chen will, ihr eigenſter Charakter waͤre? Kann Jahrhunderte lang ein Volk ſeinen Charakter dergeſtalt verkennen, daß es bei- nah immer im entgegengeſetzten handelt? Laſſet uns nicht ſagen; „Hinderniſſe haben ihn unterdruͤckt.“ Im weiten Inbegriff der Zeit kennt ein Volk keine unuͤberſteig- liche Hinderniſſe; es muß zu dem gelangen, was es ſeyn ſoll. Kaͤme das Mſcr., wovon wir reden, in unſre Hand; ſo wuͤrde es dadurch am meiſten belehrend, was wir nach Ablauf eines Jahrhunderts in ihm ausſtreichen oder hinzuſetzen muͤßten. Wir wuͤrden ſe- hen, wohin ſein Verfaſſer den Kranz fuͤr Deutſchland geſteckt? und wiefern es waͤh- C 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/42>, abgerufen am 26.04.2024.