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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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welche selbst über Verstand und Vernunft sich
nichts Deutliches sagen lässt. -- Die Abhand-
lung über diese vermeinten Seelenvermögen
wird dem minder geübten Leser auf den ersten
Blick sehr zerrissen scheinen; denn, abgesehen
von den vorbereitenden Betrachtungen der Ein-
leitung, findet sich ein Theil derselben im vier-
ten Capitel des ersten Abschnitts, ein anderer
Theil erst im dritten und vierten Capitel des
zweyten Abschnitts. Allein wenn dies Unord-
nung scheint, so liegt die Schuld an der bishe-
rigen übeln Gewohnheit der Psychologen. Die
Erklärung des gemeinen Denkens, und seiner
Hauptbegriffe, ist ein durchaus verschiedener
Gegenstand von der Frage nach der Möglichkeit
des eigentlichen Wissens, und schon des Stre-
bens nach diesem Wissen mit Gefahr eines man-
nigfaltigen Irrthums. Die gewöhnlichen Lehren,
welche dies und jenes vermengen, stellen den
gemeinen Verstand zu hoch; den wissenschaftli-
chen zu niedrig. Daraus entsteht erstlich eine
zu grosse Kluft zwischen Mensch und Thier, die
zwar unserm Stolze schmeichelt, aber von der
Erfahrung nicht bestätigt wird; -- zweytens eine
ganz ungebührliche Erniedrigung des menschli-
chen Wissens, dessen speculativer Aufschwung
sich in eine nicht bloss lächerliche, sondern ge-
radezu unmögliche Thorheit verwandeln würde,
wenn nichts anderes, als ein Kategorien-Ver-

stand
nauern Untersuchung erwarten sollen. Denn die Sprache ver-
räth die Sache. Die Worte: Substanz und Inhärenz, sind
vom Raume entlehnt; und eine Logik zu liefern ohne räumliche
Metaphern, wie Umfang, Inhalt, u. s. w. ist ganz unmöglich.

welche selbst über Verstand und Vernunft sich
nichts Deutliches sagen läſst. — Die Abhand-
lung über diese vermeinten Seelenvermögen
wird dem minder geübten Leser auf den ersten
Blick sehr zerrissen scheinen; denn, abgesehen
von den vorbereitenden Betrachtungen der Ein-
leitung, findet sich ein Theil derselben im vier-
ten Capitel des ersten Abschnitts, ein anderer
Theil erst im dritten und vierten Capitel des
zweyten Abschnitts. Allein wenn dies Unord-
nung scheint, so liegt die Schuld an der bishe-
rigen übeln Gewohnheit der Psychologen. Die
Erklärung des gemeinen Denkens, und seiner
Hauptbegriffe, ist ein durchaus verschiedener
Gegenstand von der Frage nach der Möglichkeit
des eigentlichen Wissens, und schon des Stre-
bens nach diesem Wissen mit Gefahr eines man-
nigfaltigen Irrthums. Die gewöhnlichen Lehren,
welche dies und jenes vermengen, stellen den
gemeinen Verstand zu hoch; den wissenschaftli-
chen zu niedrig. Daraus entsteht erstlich eine
zu groſse Kluft zwischen Mensch und Thier, die
zwar unserm Stolze schmeichelt, aber von der
Erfahrung nicht bestätigt wird; — zweytens eine
ganz ungebührliche Erniedrigung des menschli-
chen Wissens, dessen speculativer Aufschwung
sich in eine nicht bloſs lächerliche, sondern ge-
radezu unmögliche Thorheit verwandeln würde,
wenn nichts anderes, als ein Kategorien-Ver-

stand
nauern Untersuchung erwarten sollen. Denn die Sprache ver-
räth die Sache. Die Worte: Substanz und Inhärenz, sind
vom Raume entlehnt; und eine Logik zu liefern ohne räumliche
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[XXIV/0031] welche selbst über Verstand und Vernunft sich nichts Deutliches sagen läſst. — Die Abhand- lung über diese vermeinten Seelenvermögen wird dem minder geübten Leser auf den ersten Blick sehr zerrissen scheinen; denn, abgesehen von den vorbereitenden Betrachtungen der Ein- leitung, findet sich ein Theil derselben im vier- ten Capitel des ersten Abschnitts, ein anderer Theil erst im dritten und vierten Capitel des zweyten Abschnitts. Allein wenn dies Unord- nung scheint, so liegt die Schuld an der bishe- rigen übeln Gewohnheit der Psychologen. Die Erklärung des gemeinen Denkens, und seiner Hauptbegriffe, ist ein durchaus verschiedener Gegenstand von der Frage nach der Möglichkeit des eigentlichen Wissens, und schon des Stre- bens nach diesem Wissen mit Gefahr eines man- nigfaltigen Irrthums. Die gewöhnlichen Lehren, welche dies und jenes vermengen, stellen den gemeinen Verstand zu hoch; den wissenschaftli- chen zu niedrig. Daraus entsteht erstlich eine zu groſse Kluft zwischen Mensch und Thier, die zwar unserm Stolze schmeichelt, aber von der Erfahrung nicht bestätigt wird; — zweytens eine ganz ungebührliche Erniedrigung des menschli- chen Wissens, dessen speculativer Aufschwung sich in eine nicht bloſs lächerliche, sondern ge- radezu unmögliche Thorheit verwandeln würde, wenn nichts anderes, als ein Kategorien-Ver- stand *) *) nauern Untersuchung erwarten sollen. Denn die Sprache ver- räth die Sache. Die Worte: Substanz und Inhärenz, sind vom Raume entlehnt; und eine Logik zu liefern ohne räumliche Metaphern, wie Umfang, Inhalt, u. s. w. ist ganz unmöglich.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. XXIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/31>, abgerufen am 26.04.2024.