solle an einem bestimmten Tage fertig seyn. Daher sind die Köpfe, welche viel Verstand in einer gegebenen Zeit haben, weit verschieden von grossen Denkern, de- nen er leicht fehlen kann in dem Augenblick, wo man ihn fordert; denn die Vertiefungen des wissenschaftlichen Denkens richten sich zwar nach den Begriffen, aber nicht nach der Uhr.
Man gewöhne sich endlich gleich hier an eine Un- terscheidung, die öfters nöthig ist; die des Absichtli- chen und Unabsichtlichen. Es giebt ohne allen Zweifel eine starke Selbstbeherrschung, durch welche man sich zwingt, seine Gedanken nicht von der Quali- tät des Gedachten abschweifen zu lassen; diese Selbst- beherrschung ist der Nerv des Philosophirens. Aber sehr mit Unrecht würde man den ganzen Verstand auf diese Absicht zurückführen. Die natürliche Leichtigkeit, womit kluge Köpfe das Verwickelte richtig durchschauen und behandeln, ist auch Verstand; und darüber können sich nur diejenigen wundern, welchen im Ernste jedes Seelen- vermögen Eins und ein Ganzes ist, das man denn frey- lich nicht zerstückeln und zersplittern darf!
B. Vorläufige Betrachtung der Vernunft nach ihren Beziehungen.
Die Analyse der Vernunft ist merklich schwerer, als die des Verstandes. Zum Theil schon deswegen, weil man sich leicht versucht fühlt, die Betrachtung sogleich auf die species, theoretische und praktische Vernunft, zu richten, und darüber den allgemeinen Charakter dessen, was Vernunft heisst, nämlich Ueberlegen und Ent- scheiden zu verfehlen.
Das erste Merkmal der Ueberlegung nun ist, dass sie Zeit braucht, damit sich eine Reihe von Vorstellun-
solle an einem bestimmten Tage fertig seyn. Daher sind die Köpfe, welche viel Verstand in einer gegebenen Zeit haben, weit verschieden von groſsen Denkern, de- nen er leicht fehlen kann in dem Augenblick, wo man ihn fordert; denn die Vertiefungen des wissenschaftlichen Denkens richten sich zwar nach den Begriffen, aber nicht nach der Uhr.
Man gewöhne sich endlich gleich hier an eine Un- terscheidung, die öfters nöthig ist; die des Absichtli- chen und Unabsichtlichen. Es giebt ohne allen Zweifel eine starke Selbstbeherrschung, durch welche man sich zwingt, seine Gedanken nicht von der Quali- tät des Gedachten abschweifen zu lassen; diese Selbst- beherrschung ist der Nerv des Philosophirens. Aber sehr mit Unrecht würde man den ganzen Verstand auf diese Absicht zurückführen. Die natürliche Leichtigkeit, womit kluge Köpfe das Verwickelte richtig durchschauen und behandeln, ist auch Verstand; und darüber können sich nur diejenigen wundern, welchen im Ernste jedes Seelen- vermögen Eins und ein Ganzes ist, das man denn frey- lich nicht zerstückeln und zersplittern darf!
B. Vorläufige Betrachtung der Vernunft nach ihren Beziehungen.
Die Analyse der Vernunft ist merklich schwerer, als die des Verstandes. Zum Theil schon deswegen, weil man sich leicht versucht fühlt, die Betrachtung sogleich auf die species, theoretische und praktische Vernunft, zu richten, und darüber den allgemeinen Charakter dessen, was Vernunft heiſst, nämlich Ueberlegen und Ent- scheiden zu verfehlen.
Das erste Merkmal der Ueberlegung nun ist, daſs sie Zeit braucht, damit sich eine Reihe von Vorstellun-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0080"n="45"/>
solle an einem bestimmten Tage fertig seyn. Daher sind<lb/>
die Köpfe, welche viel Verstand <hirendition="#g">in einer gegebenen<lb/>
Zeit</hi> haben, weit verschieden von groſsen Denkern, de-<lb/>
nen er leicht fehlen kann in dem Augenblick, wo man<lb/>
ihn fordert; denn die Vertiefungen des wissenschaftlichen<lb/>
Denkens richten sich zwar nach den Begriffen, aber nicht<lb/>
nach der Uhr.</p><lb/><p>Man gewöhne sich endlich gleich hier an eine Un-<lb/>
terscheidung, die öfters nöthig ist; die des <hirendition="#g">Absichtli-<lb/>
chen</hi> und <hirendition="#g">Unabsichtlichen</hi>. Es giebt ohne allen<lb/>
Zweifel eine starke Selbstbeherrschung, durch welche<lb/>
man sich <hirendition="#g">zwingt</hi>, seine Gedanken nicht von der Quali-<lb/>
tät des Gedachten abschweifen zu lassen; diese Selbst-<lb/>
beherrschung ist der Nerv des Philosophirens. Aber sehr<lb/>
mit Unrecht würde man den ganzen Verstand auf diese<lb/>
Absicht zurückführen. Die natürliche Leichtigkeit, womit<lb/>
kluge Köpfe das Verwickelte richtig durchschauen und<lb/>
behandeln, ist auch Verstand; und darüber können sich<lb/>
nur diejenigen wundern, welchen im Ernste jedes Seelen-<lb/>
vermögen Eins und ein Ganzes ist, das man denn frey-<lb/>
lich nicht zerstückeln und zersplittern darf!</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head><hirendition="#i">B.</hi> Vorläufige Betrachtung der Vernunft nach<lb/>
ihren Beziehungen.</head><lb/><p>Die Analyse der Vernunft ist merklich schwerer, als<lb/>
die des Verstandes. Zum Theil schon deswegen, weil<lb/>
man sich leicht versucht fühlt, die Betrachtung sogleich<lb/>
auf die <hirendition="#i">species</hi>, theoretische und praktische Vernunft, zu<lb/>
richten, und darüber den allgemeinen Charakter dessen,<lb/>
was Vernunft heiſst, nämlich <hirendition="#g">Ueberlegen und Ent-<lb/>
scheiden</hi> zu verfehlen.</p><lb/><p>Das erste Merkmal der Ueberlegung nun ist, daſs<lb/>
sie <hirendition="#g">Zeit</hi> braucht, damit sich eine Reihe von Vorstellun-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[45/0080]
solle an einem bestimmten Tage fertig seyn. Daher sind
die Köpfe, welche viel Verstand in einer gegebenen
Zeit haben, weit verschieden von groſsen Denkern, de-
nen er leicht fehlen kann in dem Augenblick, wo man
ihn fordert; denn die Vertiefungen des wissenschaftlichen
Denkens richten sich zwar nach den Begriffen, aber nicht
nach der Uhr.
Man gewöhne sich endlich gleich hier an eine Un-
terscheidung, die öfters nöthig ist; die des Absichtli-
chen und Unabsichtlichen. Es giebt ohne allen
Zweifel eine starke Selbstbeherrschung, durch welche
man sich zwingt, seine Gedanken nicht von der Quali-
tät des Gedachten abschweifen zu lassen; diese Selbst-
beherrschung ist der Nerv des Philosophirens. Aber sehr
mit Unrecht würde man den ganzen Verstand auf diese
Absicht zurückführen. Die natürliche Leichtigkeit, womit
kluge Köpfe das Verwickelte richtig durchschauen und
behandeln, ist auch Verstand; und darüber können sich
nur diejenigen wundern, welchen im Ernste jedes Seelen-
vermögen Eins und ein Ganzes ist, das man denn frey-
lich nicht zerstückeln und zersplittern darf!
B. Vorläufige Betrachtung der Vernunft nach
ihren Beziehungen.
Die Analyse der Vernunft ist merklich schwerer, als
die des Verstandes. Zum Theil schon deswegen, weil
man sich leicht versucht fühlt, die Betrachtung sogleich
auf die species, theoretische und praktische Vernunft, zu
richten, und darüber den allgemeinen Charakter dessen,
was Vernunft heiſst, nämlich Ueberlegen und Ent-
scheiden zu verfehlen.
Das erste Merkmal der Ueberlegung nun ist, daſs
sie Zeit braucht, damit sich eine Reihe von Vorstellun-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/80>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.