Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

solle an einem bestimmten Tage fertig seyn. Daher sind
die Köpfe, welche viel Verstand in einer gegebenen
Zeit
haben, weit verschieden von grossen Denkern, de-
nen er leicht fehlen kann in dem Augenblick, wo man
ihn fordert; denn die Vertiefungen des wissenschaftlichen
Denkens richten sich zwar nach den Begriffen, aber nicht
nach der Uhr.

Man gewöhne sich endlich gleich hier an eine Un-
terscheidung, die öfters nöthig ist; die des Absichtli-
chen
und Unabsichtlichen. Es giebt ohne allen
Zweifel eine starke Selbstbeherrschung, durch welche
man sich zwingt, seine Gedanken nicht von der Quali-
tät des Gedachten abschweifen zu lassen; diese Selbst-
beherrschung ist der Nerv des Philosophirens. Aber sehr
mit Unrecht würde man den ganzen Verstand auf diese
Absicht zurückführen. Die natürliche Leichtigkeit, womit
kluge Köpfe das Verwickelte richtig durchschauen und
behandeln, ist auch Verstand; und darüber können sich
nur diejenigen wundern, welchen im Ernste jedes Seelen-
vermögen Eins und ein Ganzes ist, das man denn frey-
lich nicht zerstückeln und zersplittern darf!


B. Vorläufige Betrachtung der Vernunft nach
ihren Beziehungen.

Die Analyse der Vernunft ist merklich schwerer, als
die des Verstandes. Zum Theil schon deswegen, weil
man sich leicht versucht fühlt, die Betrachtung sogleich
auf die species, theoretische und praktische Vernunft, zu
richten, und darüber den allgemeinen Charakter dessen,
was Vernunft heisst, nämlich Ueberlegen und Ent-
scheiden
zu verfehlen.

Das erste Merkmal der Ueberlegung nun ist, dass
sie Zeit braucht, damit sich eine Reihe von Vorstellun-

solle an einem bestimmten Tage fertig seyn. Daher sind
die Köpfe, welche viel Verstand in einer gegebenen
Zeit
haben, weit verschieden von groſsen Denkern, de-
nen er leicht fehlen kann in dem Augenblick, wo man
ihn fordert; denn die Vertiefungen des wissenschaftlichen
Denkens richten sich zwar nach den Begriffen, aber nicht
nach der Uhr.

Man gewöhne sich endlich gleich hier an eine Un-
terscheidung, die öfters nöthig ist; die des Absichtli-
chen
und Unabsichtlichen. Es giebt ohne allen
Zweifel eine starke Selbstbeherrschung, durch welche
man sich zwingt, seine Gedanken nicht von der Quali-
tät des Gedachten abschweifen zu lassen; diese Selbst-
beherrschung ist der Nerv des Philosophirens. Aber sehr
mit Unrecht würde man den ganzen Verstand auf diese
Absicht zurückführen. Die natürliche Leichtigkeit, womit
kluge Köpfe das Verwickelte richtig durchschauen und
behandeln, ist auch Verstand; und darüber können sich
nur diejenigen wundern, welchen im Ernste jedes Seelen-
vermögen Eins und ein Ganzes ist, das man denn frey-
lich nicht zerstückeln und zersplittern darf!


B. Vorläufige Betrachtung der Vernunft nach
ihren Beziehungen.

Die Analyse der Vernunft ist merklich schwerer, als
die des Verstandes. Zum Theil schon deswegen, weil
man sich leicht versucht fühlt, die Betrachtung sogleich
auf die species, theoretische und praktische Vernunft, zu
richten, und darüber den allgemeinen Charakter dessen,
was Vernunft heiſst, nämlich Ueberlegen und Ent-
scheiden
zu verfehlen.

Das erste Merkmal der Ueberlegung nun ist, daſs
sie Zeit braucht, damit sich eine Reihe von Vorstellun-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0080" n="45"/>
solle an einem bestimmten Tage fertig seyn. Daher sind<lb/>
die Köpfe, welche viel Verstand <hi rendition="#g">in einer gegebenen<lb/>
Zeit</hi> haben, weit verschieden von gro&#x017F;sen Denkern, de-<lb/>
nen er leicht fehlen kann in dem Augenblick, wo man<lb/>
ihn fordert; denn die Vertiefungen des wissenschaftlichen<lb/>
Denkens richten sich zwar nach den Begriffen, aber nicht<lb/>
nach der Uhr.</p><lb/>
          <p>Man gewöhne sich endlich gleich hier an eine Un-<lb/>
terscheidung, die öfters nöthig ist; die des <hi rendition="#g">Absichtli-<lb/>
chen</hi> und <hi rendition="#g">Unabsichtlichen</hi>. Es giebt ohne allen<lb/>
Zweifel eine starke Selbstbeherrschung, durch welche<lb/>
man sich <hi rendition="#g">zwingt</hi>, seine Gedanken nicht von der Quali-<lb/>
tät des Gedachten abschweifen zu lassen; diese Selbst-<lb/>
beherrschung ist der Nerv des Philosophirens. Aber sehr<lb/>
mit Unrecht würde man den ganzen Verstand auf diese<lb/>
Absicht zurückführen. Die natürliche Leichtigkeit, womit<lb/>
kluge Köpfe das Verwickelte richtig durchschauen und<lb/>
behandeln, ist auch Verstand; und darüber können sich<lb/>
nur diejenigen wundern, welchen im Ernste jedes Seelen-<lb/>
vermögen Eins und ein Ganzes ist, das man denn frey-<lb/>
lich nicht zerstückeln und zersplittern darf!</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#i">B.</hi> Vorläufige Betrachtung der Vernunft nach<lb/>
ihren Beziehungen.</head><lb/>
          <p>Die Analyse der Vernunft ist merklich schwerer, als<lb/>
die des Verstandes. Zum Theil schon deswegen, weil<lb/>
man sich leicht versucht fühlt, die Betrachtung sogleich<lb/>
auf die <hi rendition="#i">species</hi>, theoretische und praktische Vernunft, zu<lb/>
richten, und darüber den allgemeinen Charakter dessen,<lb/>
was Vernunft hei&#x017F;st, nämlich <hi rendition="#g">Ueberlegen und Ent-<lb/>
scheiden</hi> zu verfehlen.</p><lb/>
          <p>Das erste Merkmal der Ueberlegung nun ist, da&#x017F;s<lb/>
sie <hi rendition="#g">Zeit</hi> braucht, damit sich eine Reihe von Vorstellun-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[45/0080] solle an einem bestimmten Tage fertig seyn. Daher sind die Köpfe, welche viel Verstand in einer gegebenen Zeit haben, weit verschieden von groſsen Denkern, de- nen er leicht fehlen kann in dem Augenblick, wo man ihn fordert; denn die Vertiefungen des wissenschaftlichen Denkens richten sich zwar nach den Begriffen, aber nicht nach der Uhr. Man gewöhne sich endlich gleich hier an eine Un- terscheidung, die öfters nöthig ist; die des Absichtli- chen und Unabsichtlichen. Es giebt ohne allen Zweifel eine starke Selbstbeherrschung, durch welche man sich zwingt, seine Gedanken nicht von der Quali- tät des Gedachten abschweifen zu lassen; diese Selbst- beherrschung ist der Nerv des Philosophirens. Aber sehr mit Unrecht würde man den ganzen Verstand auf diese Absicht zurückführen. Die natürliche Leichtigkeit, womit kluge Köpfe das Verwickelte richtig durchschauen und behandeln, ist auch Verstand; und darüber können sich nur diejenigen wundern, welchen im Ernste jedes Seelen- vermögen Eins und ein Ganzes ist, das man denn frey- lich nicht zerstückeln und zersplittern darf! B. Vorläufige Betrachtung der Vernunft nach ihren Beziehungen. Die Analyse der Vernunft ist merklich schwerer, als die des Verstandes. Zum Theil schon deswegen, weil man sich leicht versucht fühlt, die Betrachtung sogleich auf die species, theoretische und praktische Vernunft, zu richten, und darüber den allgemeinen Charakter dessen, was Vernunft heiſst, nämlich Ueberlegen und Ent- scheiden zu verfehlen. Das erste Merkmal der Ueberlegung nun ist, daſs sie Zeit braucht, damit sich eine Reihe von Vorstellun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/80
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/80>, abgerufen am 22.12.2024.